999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
aus Angst, nicht verstanden zu werden, vielleicht weil er zum ersten Mal in seinem Leben etwas ganz Eigenes hatte, etwas, das er aus eigenem Willen, aus eigener Kraft erobert hatte und das nur ihm allein gehörte.
»Erzähl deiner Volpina ruhig alles «, sagte Elena zärtlich und ließ ihn neben sich auf dem Diwan Platz nehmen. Als sie rückte, zog sie sich den Rock höher. »Erzähl ihr nur alles. Und wenn du brav warst, wird sie dich bestimmt zu belohnen wissen …«
Giovanni lockerte seine Krawatte.
»Es ist alles vorbereitet, Liebste, aber ich gestehe, dass ich ein wenig Angst habe vor dem, was da kommt. Wenn es nur einen anderen Weg gäbe …«
»Und welchen?«, fragte Elena ironisch und zog den Rock wieder über ihre Knie. »Möchtest du de Mola vielleicht ergebenst fragen, ob er dir das Buch einfach so gibt? Ich bin mir sicher, er würde es gerne tun.«
»Ja, ich weiß, du hast ja Recht, aber ich fühle mich nun einmal schuldig. Er hat mich aus dem Waisenhaus geholt, hat mich studieren lassen und hat mich sogar zu sich ins Antiquariat genommen.«
»Na und? Er nutzt dich aus, Liebster. Er hat dich zu seinem Diener gemacht und dir lauter Flausen in den Kopf gesetzt. Du liebe Güte, die Mission! Was für ein Theater! Als ob ihr die Welt retten müsstet! Das Buch, das Buch! Als ob das Leben aus dem Hüten eines Buches bestehen würde.« Elena schnaubte.
»Sprich nicht so, ich bitte dich.«
»Und ich?«, ereiferte sie sich. »Zähle ich gar nichts? Ich habe dir alles gegeben, Giovanni, alles! Ich habe sogar die Hochzeit mit einem Grafen abgesagt, einem Grafen ! Und das nur für dich! Wie dumm ich doch war! Ich glaubte allen Ernstes, du würdest mich lieben und ein gemeinsames Leben mit mir wollen, weit weg von dem allem. Und jetzt sitzt du hier und redest von irgendwelchen unbedeutenden Zweifeln! Du bist ein Scheusal, jawohl, das bist du! Oh Gott, und wie undankbar! Schau, nun hast du mich auch noch zum Weinen gebracht!«
Giovanni hatte sie schon einmal weinen gesehen und es als unerträglich empfunden. Warum musste das Leben nur so kompliziert sein? Wenn er sie zu trösten versuchte, Elena aber jede Geste von ihm abzulehnen schien, dann verfluchte er sich im Stillen. Vielleicht hätte er einfach nur sein Gewissen verfluchen sollen. Bei Gott, wie beneidete er diejenigen, die ihre Ziele konsequent verfolgten und sich dabei nicht vom Weg abbringen ließen. Ihm gelang das nie: Giovanni änderte dauernd seine Meinung, und selbst wenn eine Entscheidung unverrückbar getroffen war, drängte ihn eine innere Unruhe, in letzter Sekunde doch noch alles über den Haufen zu werfen, einen neuen Kompromiss zu suchen und eine andere Lösung zu finden, um sein Handeln zu rechtfertigen.
Elena schluchzte weiter, und Giovannis Gedanken kreisten erneut um das Buch. Er war sich bewusst, dass er das, was er heute war, seinem Lehrer de Mola zu verdanken hatte. Aber vielleicht war ja genau das sein Problem: Sein Meister hatte ihn zu etwas geformt, das er nie hatte sein wollen. Um wie viel lieber würde er anonym und bescheiden unter Millionen anderer unauffälliger Menschen sein kleines Leben führen und die bescheidenen Privilegien genießen, die ihm seine Intelligenz und seine Fähigkeiten verschaffen könnten. An Elenas Seite.
Warum hatte ihn de Mola nie verstanden? Warum hatte der Meister ihn nicht nach seinem maxima cum laude- Abschluss an der Jesuitenschule in Livorno oder wenigstens nach dem Studium an der Sorbonne seinen eigenen Weg gehen lassen? Ihm hätte eine Stelle als Ministerialbeamter oder Bibliothekar irgendeiner Universität genügt. Aber nein, de Mola hatte Vertrauen in seine Intelligenz und in sein reines Herz und ihn deshalb kurzerhand zu seinem Nachfolger gemacht. Wie es ihm dabei ging, war dem Meister offensichtlich egal. Weil Giovanni sich dem Willen de Molas aber weder entziehen konnte, noch den Mut hatte, ihm den Dienst zu verweigern, hatte er einfach immer so weitergemacht und sich so verhalten, wie de Mola es wollte. Jedoch um welchen Preis?, fragte er sich nun. Nur um der zu werden, der er einfach nicht war. Und weil Giacomo ihn täglich tiefer in seine Geheimnisse und in die Mission einweihte, konnte Giovanni irgendwann nicht mehr zurück.
»Verschwinde!«, schrie ihn Elena an. »Verschwinde und komm nie wieder.«
»Nein, Schatz, bitte sag so etwas nicht. Alles wird gut. Ich habe Zugel, diesen Deutschen, gebeten, noch ein paar Tage zu warten, damit ich vielleicht doch noch einen anderen Weg finde
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