999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
dem Krach der Karren, zwischen dem Geschrei, dem Wehklagen und Gelächter suchte Giovanni Zuflucht in seinen Gedanken, mit denen alles begonnen hatte: Es war die Lektüre einiger Originalschriften der Bibel in aramäischer Sprache gewesen, deren lateinische Übersetzung an einigen Stellen manipuliert worden war. Das hatte die ersten Zweifel an der Wahrheit des heiligen Wortes in ihm gesät. Seitdem hatte Giovanni nicht aufgehört zu suchen und war über babylonische, sumerische und akkadische Handschriften bei der Keilschrift gelandet. Durch Zufall war er dann an die Enûma elîsch , den babylonischen Schöpfungsepos, gelangt.
Seitdem verstand Giovanni einige Zusammenhänge.
Aber er war noch weit von der Erkenntnis entfernt, denn jedes Mal, wenn er die tieferen Zusammenhänge entdecken wollte, eröffneten sich ihm neue Welten, zu denen er erst den Schlüssel finden musste. Er studierte die Mysterien Babylons und forschte über die Urgöttin Tiamat, »die alles gebar«, und über Nammu, die sumerische Göttin der Schöpfung. Giovanni las über die Kulturen jenseits der großen Meere, deren Existenz man nur vermutete, deren Mythen jedoch mit denen, die in der alten Welt bekannt waren, exakt übereinstimmten. Es schien ihm, als ob seit Anbeginn der Schöpfung alles durch ein einziges Prinzip miteinander verbunden war.
Dies alles stand jedoch im Kontrast zur Lehre des christlichen wie des jüdischen und islamischen Glaubens. Giovanni kehrte also zum Bibelstudium zurück und suchte zwischen den Zeilen ein Zeichen, eine Art Legende, etwas, was die antiken Mythen mit dem Gottesverständnis des Christentums in Einklang bringen konnte. Vielleicht war ja die Liebe der Schlüssel: Denn in allen drei monotheistischen Religionen ist Gott gut und barmherzig. Aber das hebräische Wort tov – ›gut‹ in Bezug auf ein höheres Wesen – wurde in den Schriften des Alten Testaments nur spärlich verwendet. Warum? Sehr viel öfter wurde der Ausdruck rachum – barmherzig – verwendet. Und genau hier lag der Schlüssel: Rachum , fand Giovanni heraus, leitete sich ab von dem hebräischen Wort für die weibliche Gebärmutter: Rechem ! Was bedeutete, dass das entscheidende Merkmal Gottes seine weibliche Natur war! Gott war die Mutter. Nicht der patriarchalische Gott, der biblische Gott, der Gott der Heere, der männliche Gott. Gott war die ewige Mutter, die Göttin. Dieses Glaubenselement verband alle antiken Überlieferungen und sämtliche antike Kulturen miteinander; es war die erste und ursprünglichste Form jeder Religion. Ein Glaube, der mit der Menschheit geboren worden war, auf jedem Breitengrad der Erde und unabhängig von anderen Zivilisationen.
Giovanni verstand die schrecklichen Gründe, warum die Schöpferin der Erde – die Urmutter – verloren gegangen und durch den Advent, die Ankunft des Vaters, ersetzt worden war – der aus der Dunkelheit, aus dem Krieg, aus der Bestrafung und aus dem ewigen Tod kam. Und er konnte im dunklen Zeitalter der Gegenwart einen letzten Funken dieses Urglaubens ausmachen – in dem einfachsten Gebet, das er bereits als kleines Kind gelehrt worden war und das sich an eine arme und unwissende Frau aus Palästina wandte: Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum. Benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui, Iesus. Sancta Maria, mater Dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae. Es hieß nicht Mater Christi , sondern Mater dei – Mutter Gottes, die Schöpferin. Dies wurde während des zweiten ökumenischen Konzils von Ephesos entschieden, wo das untergehende Römische Imperium sich das letzte Privileg seiner ehemaligen Vormachtstellung gesichert hatte: Rom würde die Hauptstadt der Kirche bleiben.
Jetzt aber, tausend Jahre später, war die Zeit reif. Die Menschheit würde erkennen , welch großer Täuschung sie erlegen war, und sich befreien: Er selbst, Elia del Medigo und Abu Abdullah, der Christ, der Jude und der Muselmane: Alle zusammen waren sie bereit, in Rom – wie seinerzeit die 72 Weisen in Alexandria, sechs Vertreter aus jedem der zwölf Stämme Israels – die letzten neunundneunzig Seiten der Conclusiones aufzuschlagen.
Zuerst würden sie die 900 Thesen vor den besten philosophischen Gelehrten ihrer Zeit verlesen, um den Geist der Menschen auf das Konzept der Einzigartigkeit des höchsten Wesens vorzubereiten – dann die anderen. Kommentarlos und rein auf die Kraft der Gedanken bauend, die hinter den Thesen standen. So wollten sie die
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