999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
Zugschaffner an den Tag legte, als er ihn nach dem Billett fragte. Der Schaffner war ein Sohn des Volkes, nicht viel älter als Giacomo, und übte seine Autorität ohne Freude und Höflichkeit gegenüber den Reisenden erster Klasse aus. Seine Geldbörse, die er am Gürtel seiner verschlissenen Uniform trug, enthielt nur ein bisschen Wechselgeld und war genauso wie er vom Alter gezeichnet.
Der Zug nach Lugano fuhr dicht an Unterholz und Bäumen entlang und zog dabei einen Wirbel aus Farben und Blättern hinter sich her. In den Kurven verlor er ein wenig an Fahrt, um dann auf den langen Geraden wieder eine stabile Geschwindigkeit zu erreichen.
Als sie im Bahnhof von Chiasso hielten, wusste Giacomo, dass es eine lange Pause werden würde. Die Grenzkontrollen wurden immer strenger. Die Schweiz war, genau wie Frankreich, eines der freundlicheren Länder, wenn es darum ging, politisch Verfolgte aufzunehmen; allerdings begann sie bereits, dem Druck der Deutschen nachzugeben: In jüngster Zeit trugen die Schweizer Behörden in die Reisedokumente derjenigen, die verdächtigt wurden, der jüdischen Rasse anzugehören, ein »J« ein und schickten sie in ihre Heimatländer zurück. Für die, die aus Österreich und Deutschland einreisen wollten, war dies ihr Todesurteil.
Obwohl er sich über die Perfektion der Dokumente und den guten Klang seines Namens keine Sorgen machen musste, war Giovanni ein wenig aufgeregt, als er seinen Reisepass und den Personalausweis hervorholte. In Mailand hatte er einige Tage Zeit gehabt, sich mit seiner neuen Identität auseinanderzusetzen. Giacomo de Martini. Unternehmer. So lauteten auch seine Dokumente. Der edle zweireihige Kamelhaarmantel und die englischen schwarzen Schuhe mit Schnalle, die farblich passenden Seidensocken sowie die farbige Eugenio-Marinella-Krawatte mit ihren englisch-antikonformistischen Farben waren die perfekte Tarnung. Sogar an den Stilbruch hatte Giovanni gedacht, der die Echtheit seiner Tarnung noch glaubwürdiger machte – wie eine falsche Note während eines Konzerts. Um nicht aufgesetzt zu wirken, musste die perfekte Tarnung etwas an sich haben, das nicht ganz genau passte. Deshalb wählte Giovanni die auffällige Krawatte, in dem Bewusstsein, dass kein dem Regime nahestehender Beamten oder Unternehmer Krawatten aus dem Hause des britischen Hoflieferanten tragen würde. Denn Albion, wie England im italienischen Rundfunk immer häufiger genannt wurde, war Feindesland.
Der rote Zugwagen der Schweizer Eisenbahngesellschaft war schon an die italienischen Wagons gekoppelt worden, aber die Kontrollen waren noch immer in vollem Gang. De Mola sah, wie ein Paar mit einem Kind aussteigen musste und die Frau schrie, als der Mann von einigen Männern in Zivil in einen schwarzen Lancia gezerrt wurde. Das Auto brauste mit offenen Wagentüren und Staubwolken hinterlassend davon. Nur der Hut des Mannes blieb zurück, den die Frau schnell aufhob und unter ihrem Mantel versteckte. Die Soldaten mischten sich nicht ein, denn die Geheimpolizei hatte bereits genug getan.
Der Reisepass von Giacomo de Martini wurde genauestens von einem kleinen Mann kontrolliert, der sich ein paar längere Haarsträhnen quer über den Kopf gekämmt hatte, um seine Glatze, die ein paar Feuermale hatte, zu kaschieren. Seine Augen sahen hinter den dicken Gläsern riesig aus, und seine wulstigen Lippen waren zu einem Dauerlächeln verzerrt. Wahrscheinlich war es seine Art zu zeigen, dass er sich nicht so einfach hinters Licht führen ließ. Giovanni hielt seinem Blick mit einer gewissen Gleichgültigkeit stand.
»Doktor de Martini?«, fragte der kleine Mann.
»Bitte?«, antwortete de Mola emotionslos und mit aufgesetzter Höflichkeit.
»Wohin fahren Sie?«
»Nach Lugano.«
»Arbeit oder Vergnügen?«
»Ich hoffe, beides«, antwortete Giovanni weltmännisch.
»Dürfen wir einen Blick auf Ihr Gepäck werfen, bitte?«
Die Stimme klang freundlich, aber die Frage war zweifellos ein Befehl.
»Bitte.«
Gelangweilt las de Mola weiter, während er fieberhaft den Inhalt seines Koffers durchging und überlegte, ob der Inhalt den eifrigen Beamten misstrauisch machen könnte.
Was der schmierige Kerl fand, schien ihm jedoch nicht aufällig: Hemden mit Monogramm, feine Unterwäsche und ein Scheckheft aus der Schweiz. Mit Sicherheit würde ihn der Beamte nicht wegen Bargeldschmuggel festhalten können, dachte Giovanni zufrieden. Für einen italienischen Unternehmer gehörte es fast schon zum guten Ton, Geld im
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