999 - Der letzte Wächter: Roman (German Edition)
etwas ahnten oder dass sie das Siegel in ihren Besitz bringen wollten, um Gewissheit zu erlangen. Keiner weiß es. Ihr müsst Clemens jedoch verstehen: Er lebte in ständiger Angst vor den Italienern und den Franzosen, die ihn hassten. Selbst vor Philipp, der ihm zu seinem Amt verholfen hatte, musste er sich fürchten. Wenn dich jemand im Dunklen angreift, schlägst du mit dem Schwert oder der Peitsche um dich und trachtest danach, dem Gegner erst einmal den Kopf abzuschlagen, um dich zu schützen. Erst dann siehst du dir in aller Ruhe an, was er in den Händen gehalten hat.«
»Das ist ein umsichtiges Vorgehen!«
»Ich wusste, dass Ihr so denkt. Wenn Ihr die Geheimakten des Tempelritterprozesses einseht, werdet Ihr entdecken, dass die Anklage wegen Sodomie und den ganzen anderen Dingen gänzlich unrechtmäßig war, das stimmt.«
»Aber sie sind verurteilt worden.«
»Ja. Damals – Ihr werdet Euch sicherlich daran erinnern – standen wir jedoch im Dienste des französischen Königs, der hohe Schulden bei ihnen hatte. Lasst es mich so ausdrücken: Unsere Interessen gingen Hand in Hand. Darüber werdet Ihr in den Büchern jedoch nie etwas zu lesen bekommen. Nur durch sie, Rodrigo, nur durch die Siegelrolle werdet Ihr die Wahrheit erfahren.«
Der Kardinal gähnte und strich sich über seine Tonsur.
»Seid Ihr müde? Möchtet Ihr ein wenig Wein?«, fragte Innozenz fürsorglich.
»Ja, gewiss. Wenn Ihr ihn mit mir teilt, wird er mir nicht schaden.«
Innozenz schüttelte den Kopf und schaute den Kardinal wie ein kleines Kind an, das seine honigverklebten Hände auf dem Rücken versteckt.
»Rodrigo, Rodrigo, Ihr seid doch der Experte für Zaubertrank und Gift. Außerdem solltet Ihr nicht immer annehmen, dass die anderen Euch grundsätzlich Gleiches mit Gleichem vergelten.«
»Dann werde ich ihn mit Genuss trinken, Euren Wein«, sagte lächelnd der Kardinal. »Aber müde bin ich nicht. Gebt mir den Mirandola. Ich möchte verstehen, warum Ihr ihn so fürchtet. Er wird doch nicht etwas wissen über …«
»Er kennt die Siegelrolle nicht, aber er hat zu viel studiert. Das war sein Ruin.«
»Das habe ich meinen Söhnen auch schon immer gesagt.«
»Lest das, jetzt«, fiel ihm Innozenz ins Wort und legte das Manuskript aus rotem Ziegenleder vorsichtig auf einer weißen Damasttischdecke ab. Einen Moment lang glaubte Rodrigo, in dem Buch einen Blutfleck zu sehen. Gierig griff er danach, setzte sich auf den Papststuhl und begann zu lesen. Zwei Bücher, zwei Geheimnisse und die Aussicht, dass der Stuhl bald ihm gehören würde – er war so freudig erregt wie schon lange nicht mehr. Er verschlang das Buch ohne aufzublicken, und die Zeit verging wie im Flug für ihn. Nicht so für Innozenz, der nervös an seinen Fingerringen herumspielte.
Als Rodrigo Borgia fertig gelesen hatte, blickte er zu Innozenz auf – mit geballter Faust auf seiner Brust.
»Was ist so Besonderes an diesem Mann? Ist er ein Genie oder ein Engel? Ein Dämon? Oder was?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Innozenz kopfschüttelnd. »Ich weiß nur, dass er etwas Magisches an sich hat, Rodrigo. Etwas, das mir Angst macht, wenn ich ganz ehrlich bin. Man sagt, dass bei seiner Geburt eine Feuerkugel über seinem Haupt erschien – es stimmt, es gibt viele Zeugen dafür. Außerdem verfügt er über eine beängstigende Intelligenz und ein unglaubliches Gedächtnis, wie viele Zungen übereinstimmend berichten. Lest ihm zwei Seiten in irgendeiner Sprache vor, und er ist fähig, sie einen Augenblick später, Wort für Wort auf Italienisch wiederzugeben.«
»Er wäre ein trefflicher Spion.«
Innozenz lachte. »Ja, das wäre in der Tat schön, wenn wir ihn für unsere Zwecke einsetzen könnten. Ich habe bereits versucht, ihn auf meine Seite zu ziehen, aber wie alle Männer, die von einer grandiosen Idee besessen sind, hat er sich nicht kaufen lassen. Mirandola ist unglaublich reich – auch nachdem er ein Vermögen für die Dokumente, Briefe und antiken Schriften ausgegeben hat, um sie zu studieren. Ich bin überzeugt, dass er immer einen Weg finden wird, uns zu überlisten – wenn es der Zufall und Gott nicht anders wollen.«
»Bezieht Ihr Euch auf den Juden, den Ihr erwähntet?«
»Ja, Eucharius Silber Franck, den Buchdrucker. Als er erfuhr, dass Mirandola nicht nur ohne meine Erlaubnis die neunhundert Thesen hat drucken lassen, sondern auch noch ohne mein – unser – Wissen ein Konzil der Weisen aller Religionen in Rom einberufen wollte, hat er sich in
Weitere Kostenlose Bücher