Ab jetzt ist Ruhe
Begeisterung für Dinge und Ideen zu infizieren. Die Mädchen, die er mal unterrichten würde, wären ihm und seinen langen schwarzen Locken in kürzester Zeit verfallen, und wäre ich nicht schon mal in ihn verliebt gewesen, hätte es mich jetzt erwischt. Es erwischte mich aber nicht, und das war gut, denn so wurden Martin und ich bessere Freunde, als wir es jemals waren.
Wir unternahmen viel miteinander, gingen ins Kino oder ins Theater, lasen dieselben Bücher und bekamen eines Tages auch dieselbe Einladung in die Jüdische Gemeinde. Die bestand fast nur noch aus Holocaust-Überlebenden und drohte zu vergreisen. Deshalb kamen ein paar Mitglieder auf die Idee, die Tür aufzumachen und Leute wie uns einzuladen – Emigrantenkinder, die zum Teil noch nie eine Synagoge von innen gesehen hatten. Wir beschlossen hinzugehen. »Wer weiß«, sagte Martin. »Vielleicht spricht die Stimme des Blutes zu uns.« – Er sagte es scherzhaft, doch es war ja was dran. Wir waren immer noch auf der Suche, und jüdisch zu sein hatte was. Es war anders, und wir wollten anders sein: weniger deutsch, weniger normal, weniger langweilig.
Einmal hatte ich mich mit einem Mann unterhalten, den ich gut fand. Wir sprachen über unsere Eltern und darüber, was sie so machten und woher sie kamen. Als ich ihm von meiner Familie erzählte, schaute er mich fasziniert an. »Du bist jüdisch? Das ist ja toll. Ich habe noch nie eine richtige Jüdin getroffen.« Ich hatte es genossen, für meine Herkunft bestaunt zu werden, doch irgendwie fand ich es auch verlogen. Ich hatte zwar Verwandte auf dem jüdischen Friedhof, doch meine Eltern waren als Kommunisten aus dem Exil zurückgekehrt, und ich hatte überhaupt keine Ahnung vom Judentum. Das würde sich nun vielleicht ändern, und wer weiß: Vielleicht würde aus mir ja wirklich mal eine richtige Jüdin werden.
Beim ersten Treffen fühlte ich mich wie am ersten Schultag. Auf dem Hof der Gemeinde standen ungefähr zwanzig Leute. Manche kannten sich und redeten, andere wirkten etwas verloren und beäugten sich misstrauisch. Ich war froh, dass ich mit Martin hier war – allein hätte ich vermutlich sofort das Weite gesucht. Er kannte ein paar der Leute, wir gingen zu ihnen, und er begrüßte sie mit lässiger Geste. Einige Minuten später führte uns eine Frau in den Gemeindesaal, wir setzten uns auf die harten Stühle und ließen uns von ihr erzählen, warum wir hier waren. Sie sprach davon, dass man aus der Gemeinde, die ein Ort der Beerdigungen geworden sei, wieder einen Ort der Zukunft machen wolle und dass das ohne uns nicht gehe. Manche von uns guckten ratlos, andere nickten ernst.
Die Gemeindeleute, die sich bei dieser Zukunftssache um uns kümmerten, gaben sich offen und jung. Sie organisierten Lesungen und Konzerte, veranstalteten Seminare zum Judentum, boten Hebräisch-Kurse an und luden uns zum Schabbat in die Synagoge oder zu jüdischen Feiertagen ein. Dort aßen wir Trauben und Birnen aus dem Westen und tranken bulgarischen Wein aus Flaschen, auf denen hinten das Etikett »garantiert koscher« klebte. Es war der gleiche Wein, den man für sechs Mark auch im Laden um die Ecke bekam.
»Dieser Wein hat garantiert noch keinen einzigen Juden gesehen«, flüsterte Martin, und ich musste mir Mühe geben, dass ich mich vor Lachen nicht an der Traube verschluckte, die ich gerade aß. Egal: Es war alles sehr interessant und geheimnisvoll. Dennoch ging ich immer hin wie zu einer Theatervorstellung. Außerdem fand ich die Leute komisch, die plötzlich mit Davidstern-Kettchen herumliefen, als hätten sie nie etwas anderes getan. Sie trugen ihre Abstammung vor sich her wie eine Auszeichnung, und es ging das Gerücht, dass manche von ihnen noch nicht mal Juden waren, sondern sich einfach nur interessant machen wollten. Ich fand das absurd, und irgendwann ging ich nicht mehr hin. Die Stimme des Blutes hatte geschwiegen. Ich blieb normal und langweilig und deutsch. Es gab Schlimmeres.
Zum Beispiel die Polizisten vor dem Brandenburger Tor, als wir David Bowie hören wollten, der bei einem Open Air vor dem Reichstag in Westberlin spielte. Ich verabredete mich mit Katja. Wie viele andere wollten wir versuchen, der Musik so nah wie möglich zu kommen, aber die Polizei war lange vor uns da und hatte alles so weit abgesperrt, dass die Musik nur in dumpfen Bässen zu uns herüberschwappte.
»Das kann ja wohl nicht wahr sein«, sagte ein Mädchen mit Rastalocken, ging auf einen der Polizisten zu und
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