Ab jetzt ist Ruhe
Mann in Frauenkleidern in einer Komödie mit Marilyn Monroe kannten.
Mein Vater sah im Fernsehen, wie mein Bruder den berühmten Schauspieler vom Flughafen abholte. Er mochte diesen Schauspieler, und als die beiden Männer sich die Hand gaben und lächelten, lächelte er ebenfalls. »Ich wusste gar nicht, dass er auch Jude ist«, sagte mein Vater.
Der berühmte Schauspieler schaute in die Kamera und erklärte ernst, dass er die Arbeit meines Bruders gut finde und sich auf die Dreharbeiten freue. Mein Vater beugte seinen Oberkörper nach vorn, als habe er Angst, auch nur ein Wort des Schauspielers nicht zu verstehen.
Und dann wurde er krank. »Du siehst schlecht aus«, sagte ich, als ich ihn besuchte. »Geht’s dir nicht gut?«
»Ach was«, sagte mein Vater und winkte ab. »Ich bin nur ein bisschen erschöpft.« Und er sprach von der Kur, zu der er fahren würde, um sich zu erholen. Ich war beruhigt, und tatsächlich sah er besser aus, als er wiederkam. Er war seit ein paar Monaten in Rente und hatte große Pläne. Er wollte Bücher lesen und selbst eins schreiben. Er wollte in Konzerte und Museen gehen. Und er wollte, dass ich endlich einen Mann fand und ihm ein Enkelkind schenkte.
Sein Enthusiasmus schien mir manchmal seltsam unecht, doch ich machte mir keine Gedanken, bis mich eines Tages Vera anrief.
Vera war eine etwa zehn Jahre jüngere, ehemalige Kollegin, mit der mein Vater manchmal essen oder ins Theater ging. Ich mochte Vera und hoffte, die beiden würden irgendwann zusammenkommen und miteinander alt werden. Sie wollte gern, doch mein Vater sagte: »Ich tauge nicht mehr für so was« und wechselte das Thema. Jetzt also war Vera am Telefon. »Ich mach mir Sorgen um ihn«, sagte sie und erzählte, dass sie ihm eine Karte ins Kurhaus geschickt habe, die jedoch zurückgekommen sei. »Dann hab ich dort angerufen, doch die kannten ihn gar nicht. Er ist ja wieder da, aber ich hatte keinen Mut, ihn zu fragen, und es geht mich ja eigentlich auch nichts an.« Ich versprach, mich darum zu kümmern, rief meinen Vater an und fragte ihn nach seiner Kur.
»War gut. Und was macht die Arbeit?«
»Papa, du warst gar nicht bei der Kur.«
»Wie kommst du denn darauf?« Mein Vater zögerte einen Augenblick zu lang und sprach eine Spur zu schnell, um erstaunt zu wirken – er würde nie lernen, vernünftig zu lügen. Ich verschwieg ihm Veras Anruf und gab ihre Geschichte als meine aus. »Also gut«, sagte mein Vater ruhig. »Ich war nicht bei der Kur, ich war im Krankenhaus. Aber mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.«
»Im Krankenhaus? Wieso? Was hattest du denn?«
»Ach nichts weiter. Nur so eine leidige Blasengeschichte.«
»Und dafür warst du drei Wochen im Krankenhaus?«
»Sie haben was weggeschnitten, das da nicht hingehört, und jetzt ist alles gut.« Das waren die gleichen Worte, die er gesagt hatte, als meine Mutter im Krankenhaus lag. Damals hatte ich ihm geglaubt. Diesmal glaubte ich ihm nicht.
»Hast du Krebs?«
»Es wurde behandelt, es ist wieder gut.«
ES wurde behandelt. Als wenn die Krankheit weniger schlimm wäre, wenn er ihren Namen nicht aussprach. Das hatte er auch bei meiner Mutter nie getan. Auch ihr Krebs war immer nur ES .
»Warum hast du nichts gesagt? Warum hast du gesagt, du fährst zur Kur?«
»Ich wollte nicht, dass ihr euch Sorgen macht.«
»Das ist doch scheiße, Papa. Du musst doch sagen, wenn so was ist.«
»Jetzt hör aber auf!« Ich sah ihn nicht, doch ich ahnte die tiefe Falte zwischen seinen Augenbrauen. »Es ist wieder gut, hab ich gesagt.« Er war wieder der Alte. Gebieterisch und autoritär. Ich atmete auf. Es gab noch Hoffnung.
Ich rief Vera an. »Er macht alles mit sich alleine ab«, sagte sie niedergeschlagen. »Das ist nicht gut.«
Ich rief meinen jüngsten Bruder an.
»Der Alte ist zäh«, sagte er. »Mach dich nicht verrückt.«
Und mein ältester Bruder zitierte sich selbst: »Ein Sohn ist vor ihm gestorben«, sagte er. »Die andern beiden wird er auch überleben.«
»Und was ist mit mir?«
»Du überlebst uns alle.«
Ich legte auf und fuhr zur Arbeit in die Musikredaktion, ganz oben im Turm des großen alten Rundfunkgebäudes. Von hier aus konnte man weit in alle Richtungen sehen, und wenn man das Fenster öffnete, schien die Luft auch klarer zu sein als da unten, wo das Land inzwischen träge und schwer in seinen Grenzen lag. Stickig und eng war es geworden, und die Leute wurden immer unzufriedener. Da halfen auch nicht die amerikanischen
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