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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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das direkt an der Spree stand. Der Chef der Musikredaktion wollte wissen, welche Musik ich mag, ob ich ein Instrument spielen könne und wie die Mitglieder der Stones hießen. Das Gespräch dauerte zehn Minuten, und zwei Monate später fing mein neues Leben an.
    Der Redakteur hatte recht – sie nahmen wirklich fast jeden: Außer mir wurden ein Bauarbeiter, ein Englischlehrer, eine abgebrochene Architekturstudentin und ein Friedhofsgärtner eingestellt. Es war das erste Mal, dass ich mit Leuten zusammenarbeitete, die in meinem Alter waren. Ich mochte nicht alle, doch einige umso mehr. Sie hießen Daniel, Mina, Alex und Jule, und nach der Arbeit setzten wir uns oft noch an den Fluss, tranken Wein aus der Kantine, redeten oder schlugen einfach nur die Zeit tot.
    »Hier soll mal einer vom anderen Ufer hergeschwommen sein«, erzählte Daniel. »Er dachte wohl, das hier wäre der Westen.« Daniel war ein paar Jahre älter als wir. Ich hatte seine Sendungen oft im Radio gehört und mochte seine kluge und entspannte Art, über Musik zu reden. Er durfte zu Konzerten in den Westen fahren und die Bands interviewen. Wir beneideten ihn, doch er machte keine große Sache draus.
    »Vielleicht ist das auch nur einer dieser urbanen Mythen«, sagte Mina. Sie war Tontechnikerin und hatte die dunkle Haut des afrikanischen Vaters, den sie nicht kannte. Sie war nachdenklich und sanft, konnte jedoch ganz unvermittelt Pfeile durch die Luft jagen, dass es einem den Atem verschlug.
    »Hm«, grübelte Alex. Er redete nie besonders viel, war sehr ernst und manchmal etwas launisch. Wenn er einen schlechten Tag hatte, ging man ihm besser aus dem Weg. Er hatte eine Sendung, in der er Punk und Indie-Rock aus England und Amerika und irgendwann auch Kassetten von Punkbands aus dem Osten spielte.
    »Ich hab gehört, dass sie in der Kantine bald keinen Alkohol mehr ausschenken wollen«, erklärte Jule. »Wegen des Bauarbeiters, der hier gearbeitet hat und besoffen vor die S-Bahn gefallen ist.« Jule, die Redaktionssekretärin, wusste Bescheid. Sie hatte eine große Klappe und ein weites Herz. Einmal im Jahr fuhr sie an die Ostsee und kam mit Unmengen an Strandgut und Steinen wieder, die wir kistenweise schleppen mussten, als sie umzog. Vier Stockwerke. Da mochten wir Jule zwei Stunden lang nicht besonders.
    So saßen wir also am Wasser, redeten oder schauten einfach nur auf den Fluss, an dessen anderem Ufer sich das Riesenrad des Vergnügungsparks drehte. Es ging uns gut. Wir arbeiteten und lebten in unserer lustigen Nische, und die Probleme der Welt kümmerten uns nicht. Noch nicht.
     
    Manchmal traf ich meinen jüngsten Bruder in der Kantine. Er hatte seit kurzem einen festen Job als Regisseur in der Hörspielabteilung, und eines seiner Märchen war gerade auf Schallplatte erschienen. Es handelte vom Wolf, der keine Lust mehr hatte, der böse Wolf zu sein. Also haute er ab aus dem Märchenwald und ging in die Stadt. Dort wollte er Leute finden, die sein Märchen umschrieben und aus ihm einen lieben Wolf machten. Weil der Wolf aber zuvor noch nie in der Stadt gewesen war und sich nicht auskannte, verletzte er alle möglichen Regeln. Er lief bei Rot über die Straße, pöbelte Verkehrspolizisten an und wurde bald zu einer Art Persona non grata des Straßenverkehrs – ein Rebell. Leider wird er am Ende der Geschichte konditioniert, und als er in den Wald zurückkehrt, führt er dort Verkehrsregeln ein. Die Leute kauften die Platte für ihre Kinder und schmunzelten an den Stellen, die sie für anarchistisch hielten.
    Mein Bruder schien zufriedener zu sein, er sah besser aus. »Ich glaub, ich hab noch nie so viel verdient und noch nie so wenig gesoffen«, sagte er. »Aber das wird schon wieder.«
    Auch mein ältester Bruder hatte zu tun. Er musste den Film drehen, von dem er bei seinen nächtlichen Anrufen immer wieder erzählt hatte. Einen Film über einen amerikanischen Juden, der nach Berlin kommt, um einen Film über einen Juden zu drehen, der im KZ sitzt und dem die Nazis die Freiheit versprechen, wenn er neben zwölf anderen Juden als Kleindarsteller in einem Propagandafilm der Nazis mitspielen würde.
    »Es ist ein Film über Schuld in der Unschuld«, sagte mein Bruder morgens um halb vier. »Ich habe keine Lust mehr, als Jude immer nur Opfer zu sein.« Ich verstand nicht genau, was er damit sagen wollte, doch ich ahnte, dass es ein komplizierter Film über ein schwieriges Thema war. Die Hauptrolle spielte ein Hollywoodstar, den wir alle als

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