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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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baute sich vor ihm auf. Der Polizist war etwa zwei Köpfe größer als sie und schien sie nicht zu bemerken.
    »Was soll denn das werden, wenn’s fertig ist«, sagte das Mädchen und schaute zu ihm auf – das sah drollig aus, und die Leute um sie herum guckten eher belustigt als überrascht. Der Polizist reagierte nicht und sah stur geradeaus.
    »Wir wollen doch hier nur Musik hören«, sagte das Rastamädchen. »Wir wollen doch nicht abhauen.« Der Polizist schwieg.
    »Hallo, Herr Polizist«, rief sie und hüpfte jetzt vor ihm auf und ab. Der Polizist zeigte kein Lebenszeichen.
    »Er redet nicht mit mir«, wandte sich das Mädchen jetzt mit gespielter Traurigkeit an uns.
    »Vielleicht hat ihm seine Mutti verboten, mit Fremden zu sprechen«, sagte jemand in der Menge. Die Leute lachten, manche klatschten sogar. Im Gesicht des Polizisten zuckte es. »Treten Sie bitte zurück«, sagte er schließlich, ohne das Mädchen eines Blickes zu würdigen.
    »Er hat was gesagt«, bemerkte einer neben uns. »Der Bulle hat gesprochen.« Andere wurden laut, es kam Unruhe in die Menge, die Stimmung schien zu kippen, und mir wurde ein bisschen mulmig.
    »Lass uns lieber abhauen«, sagte ich zu Katja.
    »Nö, wieso denn?« Meine Freundin verschränkte grinsend die Arme vor der Brust. »Jetzt wird’s doch erst lustig.«
    Die Leute begannen, von hinten zu schieben. Ich war nicht sicher, ob sie’s taten, um besser sehen zu können, was hier vorne passierte, oder ob sie durch die Sperre wollten. Und ehrlich gesagt hatte ich keine Lust, das herauszufinden. Ich wollte hier weg. Ich hatte Schiss. Nicht so sehr vor der Polizei, sondern davor, dass das hier außer Kontrolle geriet.
    »Katja, lass uns bitte gehen«, bat ich meine Freundin. »Ich weiß, wo wir die Musik viel besser hören können.«
    »Na gut«, seufzte Katja, und wir drängten uns durch die Menge, die sich immer stärker nach vorn schob. Als wir draußen waren, atmete ich auf, und jetzt sah ich, dass auch Katja bleich geworden war. »Und wo können wir jetzt hören?«, fragte sie.
    »Auf dem Klo der ›Möwe‹.«
    ›Die Möwe‹ war ein Club ganz in der Nähe. Dort kam man nur hinein, wenn man Mitglied der Künstlergewerkschaft war, und seit ich den Pressejob bei den Komponisten hatte, war ich das. Die Klos lagen auf der Rückseite. Und auf der Rückseite war die Mauer.
    Zehn Minuten später standen wir am geöffneten Fenster des Damenklos, rauchten und lauschten. Das Fenster führte zum Hof, und der Hof verstärkte die Musik, die der Wind in dünnen Klangfetzen zu uns trug. Da unten standen Mülltonnen, hier oben standen wir, und nur ein paar Meter entfernt sang David Bowie »Heroes«. Wir waren keine Helden, doch das war uns egal. Wir konnten ihn hören. Er war hier.
    In den Westnachrichten sahen wir später die Bilder. Bowie auf der Bühne im Westen und wütende Leute im Osten. »Die Mauer muss weg«, riefen sie, doch die Polizei stand wie eine Mauer davor.
    Als am nächsten Tag die Eurythmics spielten, kamen mehr Leute zum Brandenburger Tor, und es schien, als seien sie nicht nur wegen der Musik da. Auch die Polizisten standen dichter, und Männer in Zivil zogen immer wieder Leute aus der Menge und nahmen sie mit.
    Am dritten Tag waren noch mehr Leute da, ihre Sprechchöre waren noch lauter, und bei einigen Polizisten saßen plötzlich die Schlagstöcke locker. Als Genesis auf der anderen Seite der Mauer »Land of Confusion« spielten, hörte das hier niemand mehr.
    In unseren Nachrichten kein Wort davon. Das Ereignis hatte nicht stattgefunden. Wir redeten noch lange und oft über diese drei Tage und kopierten die Kassetten mit dem Genesis-Konzert, das irgendjemand im Westradio mitgeschnitten hatte. Ich war kein Genesis-Fan, doch das war egal – die Kassette war historisch, auch wenn man die Sprechchöre darauf nicht hören konnte.

Elf
    U nd dann rief das Radio bei mir an. Am Telefon war der Redakteur des Jugendsenders, dem ich damals das Interview gegeben hatte. Ich hatte es schon fast vergessen.
    »Wir brauchen Musikredakteure«, sagte er. »Und du kennst dich doch mit Musik aus, oder?«
    Ich musste nicht auf mein schmales Plattenregal und die übersichtliche Kassettensammlung schauen – ich wusste auch so, dass ich keine Ahnung hatte.
    »Geht so.«
    »Egal«, sagte der Redakteur. »Wir senden demnächst rund um die Uhr, und sie nehmen inzwischen fast jeden.«
    Ich dachte nicht lange nach, bewarb mich, wurde eingeladen und fuhr zu dem großen Rundfunkgebäude,

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