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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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die Luft im Büro war besser, und ich lernte neue Leute kennen. Einer davon war Ernst.
     
    Ernst war fast achtzig, hatte im spanischen Bürgerkrieg gekämpft, im KZ gesessen und ein paar bekannte Kampflieder komponiert, die wir schon früh im Musikunterricht lernen mussten.
    Als ich Ernst das erste Mal bei einer Parteiversammlung traf, wusste ich noch nicht, was mich erwartete. Er saß da wie alle anderen, und wie alle anderen schien auch er gleichmütig den Worten des Parteisekretärs zu folgen, der in langen hölzernen Sätzen die letzten Parteibeschlüsse wiederkäute. Es war ermüdend, also schaltete ich irgendwann auf Durchzug und kritzelte interessante geometrische Figuren in meinen Kalender. Plötzlich ging ein leises Raunen und Murmeln durch den Raum – alle schauten zu Ernst, der seinen Arm gehoben hatte. Es war, als hätte sich die Versammlung plötzlich in zwei Gruppen geteilt. Die eine rollte mit den Augen, und die andere schien sich zu freuen. Ich neigte eher zu den Augenrollern, denn Parteiversammlungen langweilten mich zu Tode, und ich verachtete jeden, der seine Hand hob, um dann auch nur das übliche Gelaber abzusondern. Dieser alte Mann würde sicher nichts anderes tun und vielleicht sogar noch von früher erzählen. Doch es kam anders.
    Ernst erhob sich, holte tief Luft, und dann sprach er. Er machte den Parteisekretär zur Schnecke, der die meisten von uns schon ins Wachkoma geschwafelt hatte. Er schimpfte ihn einen phrasendreschenden Langweiler und erklärte, dass seine Zeit zu kostbar sei, um sich diesen Unsinn länger anzuhören. Es liege doch auf der Hand, dass in diesem Land einiges schieflaufe und dass man darüber reden müsse. Die Augenroller schauten genervt auf ihre Uhren, die anderen hingen an seinen Lippen, und ich konnte es nicht fassen. Noch nie hatte ich auf einer Parteiversammlung solche Sätze gehört und schon gar nicht von einem alten Kommunisten. Ich hatte immer gedacht, diese alten Männer seien genauso verknöchert und starrsinnig wie mein Vater. Der hier war’s nicht. Er glühte und sprach aus, was viele von uns dachten, aber nicht den Mut hatten, laut zu sagen. Das Land dämmerte dem wirtschaftlichen Kollaps entgegen und kaschierte seine Probleme mit Lügen und selbstgerechten Parolen. Gerade waren wieder Volkskammerwahlen gewesen, und kaum jemand glaubte noch den Wahlergebnissen, die in der Zeitung standen. Viele von uns schauten voller Hoffnung weit in den Osten, wo der neue Generalsekretär von Offenheit, Umbau und Reformen sprach. Schön und gut sei das, kommentierten die Zeitungen, doch die Sowjetunion sei nicht die DDR . »Irgendwann bekommen wir die Rechnung«, sagte Ernst erregt. »Ich weiß nicht, ob ich mir wünschen sollte, das noch zu erleben.« Dann ließ er seinen großen, hageren Körper erschöpft auf den Stuhl fallen. Die Versammlung schwieg. Die Augenroller schauten jetzt erleichtert auf ihre Uhren, und die anderen nickten still.
    »Danke, Ernst«, sagte der Parteisekretär mit finsterer Miene, verkündete noch irgendwelche Termine und beendete dann schnell die Versammlung.
    »Ernst hat’s gut«, sagte mein Nachbar.
    »Warum?«
    »Er ist alt und hat nichts mehr zu verlieren. Er kann sagen, was er will.«
    Ich wusste, dass der Mann recht hatte, und schämte mich für meine Feigheit. Ich hatte ja noch nicht mal den Mut, meinen Brüdern zu erzählen, dass ich in der Partei war. Ich hatte es ihnen verschwiegen aus Angst, sie würden mich als die kleine opportunistische Mitläuferin verurteilen, die ich ja auch war. Ich beschloss, auch das zu ändern und es ihnen bei der nächsten passenden Gelegenheit zu sagen.
     
    Die nächste passende Gelegenheit kam ein paar Wochen später. Mein ältester Bruder rief mich nachts um halb drei an, um sich über unseren jüngsten Bruder zu beschweren, mit dem er sich offenbar mal wieder gestritten hatte. Ich wollte das nicht hören, es ging mir auf die Nerven, und außerdem war ich müde.
    »Er kokettiert immer so mit seinem jüdischen Selbsthass«, sagte mein Bruder. »Findest du nicht auch?«
    »Weiß nicht«, sagte ich lustlos.
    »Hast du keine Meinung?« Manchmal klang er schon wie mein Vater.
    »Doch. Ich bin ja in der Partei«, antwortete ich trotzig.
    »Was?«
    »Ich bin in der Partei«, wiederholte ich etwas lauter.
    »Weiß ich doch. Aber was hat das jetzt damit zu tun?«
    »Du weißt es? Woher denn?«
    »Keine Ahnung. Ich glaube, der Alte hat es mal erwähnt.«
    »Ja und?«
    »Was und?«
    »Findest du das nicht

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