Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
Vom Netzwerk:
Langhaarige öffnete sich ein Bier an der Tischkante und sagte den Satz, den er immer sagte, der immer irgendwie passte und von dem er wollte, dass er mal auf seinem Grabstein stand: »Das war doch nur äußerlich.« Seit einiger Zeit verdrehten wir nur noch gelangweilt die Augen, wenn er den Satz sagte – diesmal mussten wir lachen.
    Der Clubleiter kam in die Garderobe, zahlte uns die Gage aus und sagte, da draußen sei einer vom Radio, der ein Interview mit uns machen wolle. Uns hatte noch nie jemand interviewt, und ausgerechnet heute kamen sie. Komisch. »Auch egal«, sagte der Gitarrist mit der großen Nase. »Wir müssen es ihnen ja nicht sagen.«
    Vor der Garderobe stand der Mann vom Radio. Er sagte, er sei Redakteur, und man wolle uns live in der Sendung haben. »Aber nur einen von euch. Mehr passen nicht in den Ü-Wagen.«
    Der Gitarrist mit der großen Nase schlug vor, dass ich gehen sollte. »Du bist die Schönste von uns«, sagte er grinsend. »Das ist doch nur äußerlich«, fand der Langhaarige, wir schleppten unsere Instrumente und die Anlage in seinen Kombi, dann ging ich rüber zum Ü-Wagen.
    Der Moderator war blind, und er war einer der Stars des Jugendsenders, den wir alle kannten. Der Sender war nichts Besonderes und brachte die gleichen langweiligen Berichte wie alle anderen, deshalb hörten die meisten von uns Westradio. Doch es gab ein paar Sendungen, in denen Musik lief, die man sonst im DDR -Radio nicht hörte. Der Mann, der gleich mit mir sprechen würde, moderierte eine davon. Ich war aufgeregt.
    »Ihr seid gut«, sagte der Moderator und streckte mir seine Hand entgegen. »Setz dich.« Ich hatte mir immer versucht vorzustellen, wie er aussah, doch ich bekam nie ein Bild in den Kopf. Jetzt sah ich ihn, und plötzlich dachte ich: Stimmt. Genau so. Er war etwa Mitte dreißig, hatte einen kahlrasierten Schädel und trug eine dunkle Sonnenbrille. Er wirkte unnahbar, aber nicht unfreundlich. Meine Aufregung legte sich, und kaum hatte das Interview angefangen, war es auch wieder zu Ende.
    »Was machst du beruflich?«, fragte er mich, als das Rotlicht wieder erloschen war.
    »Ich arbeite bei einem Verlag.«
    »Und? Macht das Spaß?«
    »Geht so.«
    »Hör mal. Wenn du keinen Bock mehr hast auf deinen Verlag, komm doch zu uns. Wir bekommen vielleicht bald mehr Sendezeit, dann brauchen wir Leute. Und du kannst offenbar zusammenhängende Sätze sprechen, das ist viel wert.«
    Ich staunte und freute mich. »Danke«, sagte ich und gab ihm die Hand. »Schon gut«, sagte der Moderator und bat seinen Redakteur, meine Telefonnummer aufzuschreiben. »Wir melden uns bei dir, wenn es so weit ist.«
    Am nächsten Tag fuhren wir nach Hause, und dann wurden die Tage wieder heller. Ich hatte plötzlich große Lust, mein Leben zu ändern. Ich war mir sicher, dass mich niemand vom Radio anrufen würde und dass der Moderator mich schon wieder vergessen hätte. Doch das spielte keine Rolle. Seine Worte und das Konzert davor hatten mir gutgetan, und mir war, als sei die Agonie der letzten Wochen von einer Minute zur anderen von mir abgefallen. Ich würde aufhören, mich zu bemitleiden. Ich würde aufhören, in dem Verlag zu arbeiten, dessen Chef ein autoritäres Ekel war und wo ich mir das Büro mit einem Kollegen teilte, der zwar wenig redete, dafür aber umso mehr Zigarillos rauchte, die schlimm rochen und auch noch »Sprachlos« hießen. Und schließlich würde ich aufhören, in einer Gegend zu wohnen, in der alte Frauen sich darüber die Mäuler zerrissen, dass ich meine Wäsche für alle sichtbar auf den Balkon und nicht diskret unter die Brüstung hängte. Ich würde einfach aufhören und was anderes anfangen. So einfach war das.
    Ich setzte eine Annonce in die Zeitung, um meine Wohnung zum Tausch anzubieten. Ich hatte Glück und fand eine schöne helle Altbauwohnung mit zwei Zimmern und großer Küche in Prenzlauer Berg. Das Haus stand an einer belebten Kreuzung, durch die alle paar Minuten eine alte Straßenbahn quietschte oder eine überirdische U-Bahn lärmte, doch das war mir egal. Ich war da, wo ich sein wollte. Die meisten meiner Freunde wohnten in der Nähe, und ich war endlich zurück in einer Welt, die noch nicht so sehr vom Sterben bedroht war wie die greise Gegend davor.
    Nachdem ich eingezogen war, suchte ich mir eine neue Arbeit und fand sie im Pressebüro einer Organisation, die sich um die Komponisten des Landes kümmerte. Auch dieser Job war nichts zum Altwerden, doch es war mal etwas anderes,

Weitere Kostenlose Bücher