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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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Sänger und englischen Bands, die man jetzt im Sommer auf großen Wiesen spielen ließ.
    »Prima, dass ihr sie reingelassen habt«, sagten viele. »Aber warum lasst ihr uns nicht raus?«
    »Prima, dass wir ihnen endlich zuhören dürfen«, sagten ein paar andere. »Aber warum hört ihr uns nicht zu?«
    Sie trafen sich in Kirchen und Zimmern, sprachen von Demokratie und von der Freiheit der Andersdenkenden, malten Plakate und trugen sie nach draußen. Manche wurden verhaftet und andere aus dem Land geworfen, in dem sie eigentlich hatten bleiben wollen.
    Und wir saßen in unserem schönen Turm, machten die Musik dazu und freuten uns diebisch, wenn wir Songs fanden, die zwischen den Zeilen erzählten, wie sich viele von uns fühlten. Man ließ uns gewähren und an der langen Leine spielen, denn wir waren ein Jugendsender, und man brauchte die Jugend, damit das Land nicht vor die Hunde ging. Nur wenn jemand an der Leine riss oder zu laut bellte, nahm man ihm das Mikrophon weg und schickte ihn fort.
    Im Herbst kam der barfüßige Sänger aus Westberlin in die große Radsporthalle. Er sang die Songs, die wir kannten und für die wir ihn liebten. Er sang über den Traum von einem Land mit offenen Türen, und wir sangen mit. Sehr laut und sehr bewegt. »Dieses Land ist es nicht!«, rief der Sänger ins Mikrophon, und sechstausend Leute sangen so laut mit, dass man es auch draußen hören konnte. Wir waren aufgewühlt und redeten noch lange über dieses Konzert. Eine Woche später wurde es in unserem Radio gesendet, allerdings ohne diesen Song. Er wurde rausgeschnitten, und wir hatten uns nicht dagegen gewehrt. Ich schämte mich. Jedoch nicht sehr lange, denn dann kam Pit.
     
    Pit gehörte zu einer Schauspieltruppe aus Dresden und suchte eine Wohnung in Berlin. Bis er eine gefunden hatte, zog er mit seinem alten Lederkoffer von einem zum anderen, und eines Tages kam er auch zu mir. Ich hatte noch nie mit einem Mann zusammengelebt, deshalb zögerte ich zunächst. Doch da seine Truppe sowieso meistens unterwegs war und er kaum da sein würde, sagte ich zu. Außerdem war es mal was anderes, und ich mochte Pit. Während er auf der Bühne meist den Menschenhasser mit herabhängenden Schultern, heruntergezogenen Mundwinkeln und fiesem Blick spielte, war er im wahren Leben das Gegenteil: lustig, warm, chaotisch und schön. Pit stellte seinen alten Lederkoffer in die Ecke und blieb.
    Er war selten da, doch wenn er da war, machte es Spaß. Ich mochte es, mit ihm zu wohnen, es war leicht und unkompliziert. Manchmal dachte ich, dass ich ihn liebte. Dann wieder nicht. Wenn wir miteinander schliefen, taten wir’s wie zwei verstörte Kinder und grinsten uns danach verlegen an. Wir gaben dem, was uns verband, keinen Namen und sprachen nicht darüber. Es war nicht nötig, es ging uns gut.
     
    Dem Land jedoch ging es immer schlechter, und auch mein Vater wurde wieder krank. »Sie müssen es noch mal behandeln«, sagte er, und ich fuhr ihn ins Krankenhaus. Sie gaben ihm ein schönes Zimmer mit Blick auf den Park, wo ich ihn besuchte, sooft es ging.
    Einmal begleitete mich mein ältester Bruder und schenkte ihm sein neues Buch. Es war das erste Buch, das die DDR von ihm veröffentlicht hatte. »Es sind Theaterstücke«, sagte mein ältester Bruder. »Sie nennen es Friedenstexte.«
    »Das ist gut«, sagte mein Vater leise und blätterte mit knöchernen Fingern in dem schmalen grünen Band.
    Einmal kam mein jüngster Bruder mit und brachte ihm eine Kassette mit dem Märchen, das er gerade als Hörspiel inszeniert hatte. »Sechse kommen durch die ganze Welt«, sagte mein jüngster Bruder. »Nur lustiger.«
    »Das ist schön«, sagte mein Vater sehr leise und legte die Kassette mit zitternden Händen in den Walkman.
    Bleich war mein Vater, als er im Fernsehen die vielen Leute sah, die das Land verließen und über die ungarische Grenze nach Österreich gingen. »Warum gehen die weg? Ich versteh das nicht«, flüsterte er und drückte den roten Knopf an seinem Bett. Die Schwester kam, gab ihm eine Spritze, und er schlief ein.
    »Er wird die kommende Nacht vermutlich nicht überstehen«, sagte der Oberarzt zwei Wochen später am Telefon. Ich fuhr zu meinem Vater und nahm seine Hand. Sie war ganz leicht und kühl. Ich streichelte sie und fing an zu reden. Ich wusste nicht, ob er mich hören konnte, doch das war mir egal. Ich sagte, dass bestimmt alles gut werde und dass er sich keine Sorgen machen solle und dass wir ihn lieb hätten und er uns

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