Ab jetzt ist Ruhe
weiter schwitze, brauchen wir im Winter keine Heizung mehr. Stellt mich einfach in die Ecke, ich mach das schon.«
Meine Mutter war Redakteurin einer Lokalzeitung und mochte ihren Job nicht besonders. Manchmal hatte sie keine Lust, zur Arbeit zu gehen. Dann bat sie meinen Bruder, dort anzurufen und sie krankzumelden. Dafür schrieb sie uns ihrerseits Entschuldigungen, wenn wir keinen Bock auf Schule hatten. Mein Vater erfuhr nichts davon. Es war eine Art Geheimpakt.
So geheim wie die Flasche russischer Wodka, die ich irgendwann im Wäscheschrank in ihrem Schlafzimmer fand. Ich war erschrocken und erzählte meinem Bruder davon.
»Das erklärt einiges«, sagte er nachdenklich.
»Was denn?«
»Keine Ahnung. Aber es erklärt einiges.«
»Ist sie eine Trinkerin?«
»Quatsch! Hast du sie jemals betrunken gesehen?«
»Nein.«
»Wahrscheinlich nimmt sie manchmal einen zur Beruhigung. Wie eine Pille, verstehst du?«
Ich versuchte zu verstehen, war aber sehr beunruhigt, weswegen ich regelmäßig nachschauen ging, ob und wie schnell sich die geheime Flasche leerte. Sie leerte sich sehr langsam. So langsam, wie die Zeit verging.
Der Sommer kam und Finke ging. Er zog nach Berlin. Ich war traurig und vermisste ihn. Irgendwann schickte er mir eine Ansichtskarte, die den Fernsehturm zeigte: »Ich habe runtergespuckt. Sie haben in der Zeitung drüber geschrieben. Sonst ist hier auch nicht viel los.« Ich musste lachen und schrieb ihm eine Karte zurück, danach hörte ich nichts mehr von ihm. Finke war aus meinem Leben ausgezogen. Dafür zog etwas anderes in mein Leben ein.
»Eure Mutter ist krank«, sagte mein Vater eines Tages am Frühstückstisch. Er sagte es in seinem Alltagston, fast beiläufig. Mein Bruder biss von seinem Pflaumenmusbrötchen ab. »Was hat sie denn?«, fragte er kauend. Mein Vater schenkte sich Kaffee nach. »Sie wissen es noch nicht genau. Sie bleibt für ein paar Tage im Krankenhaus und wird untersucht. Ich gehe nach der Arbeit bei ihr vorbei.«
»Wie geht es ihr, Papa?«, fragte ich ihn, als er abends nach Hause kam. Er setzte sich in den Sessel und zündete sich eine Zigarette an. »Es geht«, sagte er müde und schaute aus dem Fenster.
»Es geht«, sagte er auch am nächsten Tag und am übernächsten.
»Was hat sie denn nun?«, fragte mein Bruder.
»Da ist etwas in ihrem Körper, das da nicht hingehört«, erklärte mein Vater. »Sie schneiden es raus, und dann ist es wieder gut.«
Dann ist es wieder gut, dachte ich und war beruhigt.
»Können wir sie besuchen?«
»Vielleicht. Am Wochenende. Wir werden sehen.«
Das Wochenende kam, und mein Vater ging allein ins Krankenhaus.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Sie braucht noch etwas Ruhe nach der Operation.« Ich glaubte ihm. Er konnte sehr überzeugend sein. Meinen Bruder allerdings überzeugte er nicht.
»Ich glaube, sie hat Krebs.«
Er kam in mein Zimmer und ließ sich auf mein Bett fallen.
»Der Alte weiß es, aber er will es nicht sagen. Oder er will es nicht glauben.«
»Er hat gesagt, sie wird wieder gesund.«
»Der sagt viel, wenn der Tag lang ist.«
Mein Bruder starrte an die Decke. Wir schwiegen. Ich wartete darauf, dass er irgendetwas sagte. Er blieb stumm. Ich war nicht zwölf Jahre alt und er nicht siebzehn – jetzt waren wir gleich alt.
Zwei Wochen später kam meine Mutter aus dem Krankenhaus, und mit ihr kehrte das Leben in unsere Wohnung zurück. Sie wirkte erholt. Ihre Haut war glatt und rosig, und der trostlose Wohlstandsspeck war weg. Sie sah plötzlich den alten Fotos ähnlich, die sie mir manchmal gezeigt hatte. Ihre Augen strahlten, ihre Gesten waren weich, und sogar ihr Humor war zurückgekehrt. »Ich bekomme jetzt Bestrahlungen, die sind teurer als ein Urlaub auf der Krim.« Und da war es wieder – das Lachen, das sie ihren dunklen Scherzen hinterherschickte, um sie heller zu machen. Wir grinsten, und mein Vater schüttelte den Kopf. Wie früher. Mein Vater hatte recht behalten. Alles war gut.
Zu meinem dreizehnten Geburtstag bekam ich eine Gitarre und meine ersten Jeans. Echte Jeans aus dem Westen. Ich war glücklich und fuhr damit im Sommer ins Ferienlager. Es war ein großes Lager mit Kindern aus der ganzen Welt. Man nannte es Pionierrepublik.
Ich gehörte zu einer Gruppe von Kindern, die zu offiziellen Anlässen sprechen und singen sollten. Wir wohnten in einem Haus mit palästinensischen Kindern, die morgens und abends eine Stunde lang in Uniform exerzieren mussten, während sie laut
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