Ab jetzt ist Ruhe
schienen. Ich nahm es ihnen nicht übel.
Ich hatte noch keinen Freund, doch ich war immer verliebt. Am meisten liebte ich die chilenischen Jungs in meiner Nachbarschaft. Sie waren mit ihren Familien nach dem Putsch 1973 hierhergekommen. Manche auch ohne ihre Familien. Sie hießen Pablo, Lautaro oder Carlos, hatten schwarzes Haar und glühende Augen. Wenn mein Vater nicht da war, lud ich sie oft zu mir nach Hause ein. Mein Vater hätte stolz auf mich sein können, wie ernst ich die Sache mit der Völkerfreundschaft und der Solidarität nahm. Doch ich erzählte ihm lieber nichts davon.
Unter den Lateinamerikanern gab es einen, der anders war. Er hieß Victor, kam aus Bolivien, war älter als die anderen und auch sehr viel ernster. Er flirtete nicht mit den Mädchen, sondern dachte über die Welt nach. Er liebte die deutsche Sprache, und ich hörte ihm gern zu, wenn er sie benutzte. Sie klang weich und schön aus seinem Mund. Victor war schon mit achtzehn ein Philosoph, seine Gedanken waren kompliziert, und ich verstand sie meistens nicht – doch ich bewunderte ihn. Und ich war stolz, als er mir sagte, dass ich das erste Mädchen sei, das er in der DDR kennengelernt habe. »Du bist die DDR für mich«, sagte Victor. Ich fand das seltsam und verstand erst später, dass er damit nicht dieses Land meinte, sondern etwas, das sich nach Zu Hause anfühlte.
Da war ich also die DDR , doch verliebt waren alle in Katja. Katja war etwas größer als ich, hatte eine tolle Figur, einen leichten Silberblick in ihren grauen Augen und eine Stimme wie feines Sandpapier. Sie war temperamentvoll und lustig, und wenn sie einen Raum betrat, schien er irgendwie heller zu werden. Wir waren Freundinnen. Es machte mir nichts aus, dass die Jungs vor allem ihretwegen zu mir nach Hause kamen. Katja wusste um ihre Wirkung, doch es schien ihr egal zu sein. »Die kann man doch alle nicht ernst nehmen«, pflegte sie zu sagen. »Ich warte lieber, bis ich einen richtigen Mann finde.« Wir waren fünfzehn, und es war ihr voller Ernst.
Katja lebte allein mit ihrer Mutter und war fasziniert von der Idee, diese mit meinem Vater zu verkuppeln. »Dann können die beiden zusammenziehen, und wir haben hier unsere Ruhe!« Wir malten uns aus, wie wir unsere künftige Wohnung einrichten würden. »Erstmal muss der ganze Spießermüll raus«, sagte Katja und zeigte auf die Schrankwand im Wohnzimmer. »Und die Gardinen und die hässlichen Tapeten müssen weg«, sagte ich. »Genau. Und dann machen wir jeden Tag eine Fete!« Wir waren berauscht von unseren Visionen.
Einmal berauschten wir uns auch ohne Visionen. Mein Vater war mal wieder auf Dienstreise und trieb sich irgendwo in Asien oder Afrika herum. Es war Freitagabend, wir saßen in meinem Zimmer auf dem Bett, hörten Musik und rauchten.
»Warst du schon mal so richtig betrunken?«, fragte Katja. Ich hatte manchmal bei meinem ältesten Bruder an einer Flasche Bier genippt, weil ich dachte, es sähe irgendwie erwachsen aus. Doch es hatte mir nicht geschmeckt. »Nein. Du?«
»Nur ein Mal. Bei meiner Jugendweihe«, sagte sie. »War aber nicht so toll. Wollen wir’s mal probieren?«
»Klar, warum nicht.«
Wir legten unser Geld zusammen und fuhren mit dem Fahrstuhl nach unten. Am Eingang der Kaufhalle lungerten wie immer ein paar ältere Typen rum. Katja ging hin, sprach mit ihnen und drückte einem von ihnen unser Geld in die Hand. Er verschwand in der Kaufhalle und kam wenig später mit einer Flasche zurück.
»KiWi«, sagte Katja und öffnete die Flasche, als wir wieder oben waren. »Kirsch mit Whisky, Fruchtsaftlikör, 25 %« stand auf dem Etikett. Sie hielt mir die Flasche vor die Nase – es roch nach Kirschen. Ich holte zwei Schnapsgläser aus der Schrankwand, Katja goss ein, und wir prosteten uns zu. »Auf den Sozialismus!«, sagte sie. »Auf den Sozialismus!« Das Zeug war süß und klebrig wie Sirup. Ich holte zwei größere Gläser, und wir mischten Cola dazu. Im Fernsehen lief ein Filmlustspiel, das »Seltsame Liebesbriefe« hieß und in dem zwei berühmte DDR -Schlagersänger die Hauptrollen spielten. Einer war klein und dick, der andere groß und schlank. Wir tranken und fanden beide blöd. Je mehr wir tranken, desto blöder fanden wir sie.
»Merkst du was?«, fragte Katja.
»Nö. Und du?«
»Nö.«
Die Flasche war halb leer, wir waren enttäuscht. »Vielleicht sollten wir noch was anderes trinken«, sagte Katja. Ich ging zur Schrankwand und öffnete das Schnapsregal, in dem
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