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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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mein Vater die Flaschen aufbewahrte, die er zu irgendwelchen Geburtstagen geschenkt bekommen hatte. Er trank fast nie. Ich entschied mich für eine angebrochene Flasche Rum.
     
    Am nächsten Morgen wurde ich von schrillem Türklingeln geweckt. Mein Kopf schien nicht zu mir zu gehören, meine Zunge lag sauer und doppelt so groß wie sonst in meinem Mund, und meine Beine fühlten sich an wie mit Wasser gefüllte Gummischläuche, als sie mich zur Wohnungstür trugen. Draußen stand eine Frau, die ich nicht kannte: »Da ist etwas auf meinem Fensterbrett, das du dir unbedingt ansehen solltest«, sagte sie und schaute mich böse an. Ich hatte keine Ahnung, was die Frau von mir wollte.
    »Was denn?«
    »Das wirst du schon sehen, komm mit!«
    Ich nahm den Wohnungsschlüssel, zog die Tür hinter mir zu und folgte der Frau. Sie trug eine viel zu pinkfarbene Kittelschürze, deren Anblick die Schmerzen in meinem Kopf mit jedem Schritt zu verdoppeln schien. Wir liefen eine Etage die Treppe hinunter, und sie schloss ihre Wohnung auf. Mir schlug der Geruch von heißem, nicht mehr ganz frischem Frittieröl entgegen. Tapfer lief ich der Kittelschürze hinterher. Ihre Wohnung sah genauso aus wie unsere, nur die Einrichtung war noch hässlicher.
    Die Frau ging zum Fenster im Wohnzimmer und öffnete es. »Sieh dir das an«, sagte sie und trat zur Seite. Auf dem Fensterbrett klebten die Überreste des Schulessens von gestern. In meiner Speiseröhre kämpfte sich etwas nach oben, das sich nach Freiheit sehnte. Mit Mühe schickte ich es zurück.
    »Pass auf, es ist ganz einfach«, sagte die Kittelschürze kühl. »Du gehst nach oben, holst einen Eimer und einen Lappen und machst das da weg. Und zwar sofort.« Sie schloss das Fenster wieder. Ich nickte und ging.
    Zurück in der Wohnung, suchte ich nach Katja. Sie lag angezogen auf der Couch im Arbeitszimmer meines Vaters. Sie sah genauso blass und elend aus, wie ich mich fühlte. Ich erzählte ihr, was passiert war. »Scheiße«, stöhnte sie, schleppte sich ins Bad und kam nach fünf Minuten mit etwas mehr Farbe im Gesicht und einem Eimer Wasser in der Hand wieder heraus. Wir gingen zusammen nach unten und machten das Fensterbrett sauber.
    Die Frau entließ uns mit dem großzügigen Versprechen, dass sie meinem Vater diesmal noch nichts von diesem Vorkommnis erzählen werde. Ich wunderte mich, dass sie wusste, in welchen Verhältnissen ich lebte und wer mein Vater war. Doch eigentlich war es mir auch egal. Wir gingen nach oben, beseitigten die Überreste unseres Experiments, und ich füllte die fast leere Rumflasche mit Wasser auf. Mein Vater kippte sie irgendwann weg, weil ihn die Farbe nicht mehr überzeugte.
     
    Während ich noch mit den Ritualen des Erwachsenwerdens beschäftigt war, hatte mein ältester Bruder schon ein Buch geschrieben. Es handelte von unzufriedenen Arbeitern und von zornigen jungen Männern, die sich mit alten Antifaschisten über den Kommunismus stritten, an die Ostsee fuhren und die gleiche Frau liebten.
    Es handelte von ihm und von seinem Land. Er liebte das Land, doch es machte ihm diese Liebe und das Leben schwer. Und weil er davon erzählte, wollte das Land seine Geschichten nicht haben. Der Verlag, zu dem er sie trug, verlangte Änderungen.
    »So geht das nicht«, sagte der Verlag.
    »So wie ihr das wollt, geht das aber auch nicht«, sagte mein Bruder und nahm sein Manuskript wieder mit. Zu Hause machte er den Fernseher an. Er sah ein Interview mit einem Sänger, den er kannte und der bei ihm um die Ecke wohnte. Der Sänger trug einen Schnauzbart, der ihn, selbst wenn er lächelte, traurig aussehen ließ. Als mein Bruder 1968 festgenommen worden war, hatte man in seiner Wohnung eine Schallplatte, zwei Tonbänder und neun Seiten mit Gedichten des Sängers beschlagnahmt. Die Lieder des Sängers waren in der DDR verboten, und er durfte nicht auftreten. Doch jetzt, dieses eine Mal, ließ man ihn in den Westen fahren. In einer großen Sporthalle in Köln sang er seine kritischen Lieder zur Gitarre. Er lächelte dankbar, kämpferisch und gerührt in den Saal und sehr professionell in die Fernsehkamera, die ihn filmte. Danach durfte der Sänger nicht mehr in die DDR zurück. Er habe seine staatsbürgerlichen Pflichten grob verletzt, stand am nächsten Tag in den Zeitungen.
    Jetzt also sah mein Bruder den Sänger im Westfernsehen. Er gab ein Interview und sagte, er habe eine zu hohe Meinung von den Leuten gehabt, die ihn ausgebürgert hätten. Er habe nicht geahnt,

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