Ab jetzt ist Ruhe
Zeit für dich« war der Satz, mit dem er das beim Abendbrot begründete. Ich fand das überhaupt nicht – im Gegenteil: Mehr Zeit mit meinem Vater zu verbringen war so ungefähr das Letzte, was ich mir wünschte. Ich hatte ihn lieb, aber ich war froh, wenn er weg war.
»Es muss einiges anders werden«, sagte mein Vater kauend. Ich mochte es nicht, wenn er mit vollem Mund sprach. Es machte mich aggressiv. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, er nahm extra einen Bissen in den Mund, bevor er etwas sagte.
»Was soll denn anders werden?«, fragte ich genervt. »Es ist doch alles prima.« Und das stimmte sogar: Ich gab mir Mühe, ihm keine Probleme zu machen, pubertierte in seiner Gegenwart so gut wie gar nicht, und auch in der Schule lief es ganz gut. Sogar mein Physiklehrer schaute mich nicht mehr ganz so missbilligend an. Die Prüfungen der zehnten Klasse würde ich locker schaffen, und mit etwas Glück bekäme ich sogar einen der begehrten Plätze für eine Berufsausbildung mit Abitur. Ich wusste also nicht, was anders werden sollte.
Mein Vater nahm einen weiteren Bissen von seinem Brot: »Wir könnten interessante Ausstellungen besuchen oder ins Konzert gehen«, sagte er. »Und wir sollten mehr reden. Ich weiß ja gar nicht, was dich beschäftigt.«
»Nichts Besonderes«, wiegelte ich ab. Ich hatte keine Lust auf diese Art Unterhaltung – ich würde meinem Vater sowieso nicht sagen, was mich beschäftigte. Ich wusste ja, wohin das führte: War man politisch nicht seiner Meinung, musste man sich lange und ermüdende Vorträge anhören. Und wenn man widersprach, gab es Krach, und die Türen flogen. Also schwieg ich lieber und behielt meine Fragen und Wahrheiten für mich.
»Dein ältester Bruder hat unserem Land den Rücken gekehrt«, sagte mein Vater. »Was sagst du dazu?« Ich hatte immer gehofft, er würde mir diese Frage nicht stellen, und schaute betreten auf meinen Teller. »Ich weiß nicht … es ist nicht richtig«, hörte ich mich die Worte sagen, die ich nicht sagen wollte. »Stimmt, es ist nicht richtig«, sagte mein Vater. »Aber warum ist es nicht richtig?« Eingehend studierte ich die Brotkrümel auf meinem Teller. »Weil es sich lohnt, hier zu leben«, sagte ich nach einer Weile und fand diesen Satz gar nicht so blöd. Auch mein Vater schien ganz zufrieden zu sein und wechselte plötzlich das Thema.
»Hast du eigentlich einen Freund?«
»Nein. Warum?«
»Nur so. Du bist ja schließlich in dem Alter, wo man schon einen Freund hat.«
»Ja, aber ich hab keinen.«
»Würdest du mir denn sagen, wenn du einen hättest?«
»Na klar«, log ich. »Das ist gut«, sagte mein Vater, und in seiner Stimme lag Erleichterung. »Lass uns abräumen.« Ich war überrascht, dass er diese Unterhaltung plötzlich so schnell beendete. Und ein paar Tage später fand ich auch die Erklärung dafür.
Ich saß in meinem Zimmer und spielte Gitarre. Seit ein paar Monaten hatte ich Unterricht an der Musikschule und benutzte das Instrument oft als Ausrede, um nicht mit meinem Vater die langweiligen Abendnachrichten im Fernsehen schauen zu müssen. »Ich geh rüber, muss noch üben«, hatte ich auch an diesem Abend gesagt und mich in mein Zimmer verzogen. Ich übte gerade irgendeine Tonleiter, als er hereinkam. »Kommst du mal, bitte«, sagte er, »ich muss mit dir reden.« Ein wenig verwundert, warum er das nicht hier tun konnte, stellte ich die Gitarre zur Seite und folgte ihm ins Wohnzimmer.
»Setz dich!«, sagte er und bot mir eine Zigarette an. Es war das erste Mal, dass er das tat. Ich zögerte. »Nimm schon. Ich weiß doch schon lange, dass du rauchst.« Ich nahm eine Zigarette, er gab mir Feuer und zündete sich dann selbst eine an. Wir rauchten. Er schwieg. Ich wartete.
»Ich werde wieder heiraten«, sagte er plötzlich. Seine Stimme klang seltsam fremd, als er diesen Satz aussprach. Doch vielleicht kam mir das auch nur so vor, weil ich diesen Satz noch nie aus seinem Mund gehört hatte. Warum auch? Es war ein Satz, der nicht zu ihm passte. Und er beschrieb einen Vorgang, der idiotisch war. Meine Mutter war erst vor einem Jahr gestorben. Warum sollte er jetzt wieder heiraten? Als könne er meine Gedanken lesen, sagte mein Vater: »Ich weiß, deine Mutter ist erst ein Jahr tot, und es geht alles sehr schnell. Doch glaub mir, es ist besser so.« Ich verstand nicht, was genau daran besser sein sollte. Doch bevor ich ihn das fragen konnte, sprach er weiter. »Es ist besser, wenn ich verheiratet bin. In
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