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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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erst diese Frau kommen musste, damit ich um sie weinen konnte. Ich war wütend, und ich tat mir leid. Ich wollte meinen Brüdern davon erzählen, doch sie waren weit weg. Sie schienen wie aus meinem Leben gefallen zu sein – nicht erreichbar.
    Ich dachte an das alte Märchen von den Wilden Schwänen, das mein ältester Bruder für eine Kinderschallplatte neu erzählt hatte. Darin ging es um einen König, der elf Söhne hatte und eine Tochter. Als die Königin starb, heiratete er eine neue Frau. »Alles muss anders werden«, sagte die Frau, die eine Hexe war. Sie verwandelte die Königssöhne in Schwäne und jagte die Prinzessin aus dem Schloss. Sie würde ihre Brüder nur erlösen können, wenn sie stumm eine Arbeit machte, bis ihre Finger bluteten. Die Prinzessin suchte die Schwäne, fand sie, flog mit ihnen um die Welt und nähte dabei schweigend und unter großen Schmerzen Hemden aus Brennnesseln. Ein junger Königssohn kam natürlich auch vor, die Söhne wurden erlöst, die böse Stiefmutter weggejagt, und am Ende war alles wieder gut.
    Ich war schon zu alt für dieses Märchen, aber es war schön, und ich hörte die Platte manchmal, wenn ich traurig war. Eigentlich war die Stiefmutter in der Geschichte gar nicht so böse – sie schickte die gelangweilten und verwöhnten Königskinder in die Welt hinaus. Sie erlebten tolle Abenteuer und mussten lernen klarzukommen. Man konnte die Geschichte also so oder so verstehen. Ich konnte mir weiter leidtun oder in die Welt hinausgehen und Abenteuer erleben.
     
    Und so ging ich in die Welt hinaus. Die Welt, in die ich ging, war eine sehr erwachsene Welt. Es war die Welt von Valentin, jenem Lockenkopf, den ich bei meinem ältesten Bruder kennengelernt hatte. Ich rief ihn an. »Klar erinnere ich mich an dich«, sagte er am Telefon nach kurzem Zögern. »Du bist die kleine Schwester.« Wir plauderten eine Weile, und schließlich lud er mich ein, am Wochenende mit ihm und ein paar Freunden ins Theater zu gehen. »Hamlet«, sagte er. Ach du Scheiße, dachte ich. Erwachsenwerden hatte offenbar seinen Preis. Ich war noch nicht oft im Theater gewesen. Oma Potsdam hatte mich manchmal mit in die Oper genommen, und mit der Klasse hatten wir ein paar Schulvorstellungen besucht, die ich nicht so besonders fand – ich hatte also keine Ahnung.
    Ich fragte meine Freundin Katja, ob sie mitkommen wolle. »Ins Theater?«, sie verzog den Mund. »Ist doch öde. Lass uns lieber tanzen gehen!« Das wiederum fand ich öde.
    »Ach komm doch mit«, bat ich sie und erzählte ihr von Valentin. »Er ist schon Mitte zwanzig und sieht toll aus!«
    »Na gut«, sagte Katja und seufzte. »Weil du’s bist. Was spielen sie denn?«
    »Hamlet«, sagte ich.
    »Ach du Scheiße!«
    Ich holte Katja ab, und wir fuhren zusammen zur Volksbühne. Valentin stand mit zwei Kumpels vor dem Eingang und lachte uns entgegen. Katja stieß mich in die Seite: »Der sieht ja wirklich toll aus!«
    Die Vorstellung war lang, und auch wenn ich die komplizierten Verstrickungen und Dialoge des Stücks nicht immer verstand – ich war freiwillig hier, also war ich auch fasziniert. Katja auch, allerdings mehr von Valentin als vom dänischen Prinzen. In der Pause wich sie ihm nicht mehr von der Seite und textete ihn zu.
    Nach der Vorstellung gingen wir in die Theaterklause. Dort trank Katja zu viel, lachte zu laut und redete dummes Zeug. Ich ärgerte mich, dass ich sie mitgenommen hatte, und wurde das Gefühl nicht los, dass auch Valentin und seine beiden Freunde nicht so recht wussten, ob sie amüsiert oder genervt sein sollten.
    »Ich glaube, er interessiert sich nicht für mich«, sagte Katja trunken und müde, als wir wieder in der Straßenbahn saßen. Sie legte ihren Kopf auf meine Schulter und schlief ein. Jetzt tat sie mir fast leid.
    Die nächsten Male nahm ich sie nicht mehr mit in meine neue Welt – ich entdeckte sie allein. Ich besuchte Valentin fast jedes Wochenende. Wir gingen ins Kino und sahen Filme in Originalfassung, er nahm mich mit in Jazz-Konzerte und gab mir Bücher von französischen Existentialisten. Ich verstand die Filme kaum, Jazz war nicht meine Musik und existentiell war ich selber – dennoch genoss ich all das. Valentin nahm mich ernst. Ernster als meine Brüder mich jemals genommen hatten. Ihm konnte ich auch von der Frau erzählen, die jetzt meine Stiefmutter war. Er hörte mir zu. »Du bist die kleine Schwester, die ich niemals hatte«, sagte er manchmal, und ich war gern seine kleine

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