Ab jetzt ist Ruhe
Schwester.
»Wer ist eigentlich dieser Valentin«, fragte mein Vater irgendwann, als ich mit ihm und der Frau beim Essen saß. Ich hatte keine Ahnung, woher er von Valentin wusste – ich hatte ihm nichts erzählt.
»Er ist ein Freund«, sagte ich.
»Ein Freund … soso.« Mein Vater runzelte die Stirn. Die Frau lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie sah irgendwie erwartungsvoll aus, das irritierte mich.
»Ich denke, du solltest dich mehr um die Schule kümmern, anstatt mit Leuten befreundet zu sein, die gegen uns sind«, sagte mein Vater.
»Wieso gegen uns?«
»Dein sogenannter Freund hat einen Ausreiseantrag gestellt.«
»Was?«
»Jetzt tu doch nicht so, als wenn du das nicht wüsstest«, mischte sich die Frau mit scharfem Ton ein. In ihrem Blick jedoch lag eine seltsame Genugtuung. Sie sah aus, als gefiele ihr gut, was hier gerade passierte.
»Nein, das habe ich nicht gewusst«, sagte ich, und es war die Wahrheit. Ich hatte mich mit Valentin oft über Politik unterhalten und wusste, dass er sehr kritisch war, doch er hatte nie davon gesprochen, dass er die DDR verlassen wolle.
»Woher weißt du das denn?«, fragte ich meinen Vater.
»Das spielt doch jetzt keine Rolle«, sagte er kalt. »Ich will nicht, dass du dich noch mal mit ihm triffst. Du bleibst an den Wochenenden künftig zu Hause.«
»Das kannst du nicht machen, Papa. Ich bin sechzehn!«
»Und wie ich das kann!«
Ich stand auf, lief in mein Zimmer und schmiss die Tür hinter mir zu. Es blieb still. Minutenlang. Dann hörte ich meinen Vater im Flur. Er ging mit schnellen Schritten vorbei in sein Arbeitszimmer, kam zurück und riss meine Tür auf.
»Wir waren noch nicht fertig miteinander«, brüllte er. In der Hand hielt er einen dicken Briefumschlag, den er jetzt auf meinen Tisch knallte. Ich erschrak. Das waren die Briefe an meinen ältesten Bruder. Manchmal, wenn ich traurig war oder mich einsam fühlte, schrieb ich ihm. Ich berichtete ihm, wie es mir ging und was ich so erlebte. Ich beklagte mich über meine Stiefmutter und hatte ihm auch von Valentin erzählt. Es war eine Art Tagebuch, nur hatte es einen Adressaten. Ich wagte es nicht, diese Briefe abzuschicken, weil mein Bruder ja im Westen lebte und ich meinem Vater keinen Ärger machen wollte.
»Was hast du dazu zu sagen?«, schrie mein Vater. So wütend und außer sich hatte ich ihn lange nicht erlebt. Ich schwieg. Ich fühlte mich ertappt und schuldig, dabei hatte ich doch eigentlich nichts getan. Ich hatte ein Geheimnis, na gut. Aber war das ein Verbrechen? Und andererseits: Wie kam er an diese Briefe, ich hatte sie doch gut versteckt?
»Vielleicht erklärst du mir mal bitte, was das soll?« Mein Vater versuchte, seine Fassung wiederzufinden. Seine Stimme wurde ruhiger. »Bitte, erklär es mir!« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und hatte einen Kloß im Hals. Mein Vater sah mich an, und plötzlich wurden seine Züge fast weich. »Warum sprichst du nicht mit mir über all das. Warum muss ich das so erfahren?«
»Entschuldige, Papa. Es tut mir leid.«
Wir schwiegen. Hinter ihm tauchte plötzlich die Frau in der Tür auf. »Es ist wirklich unerhört, wie du deinen Vater behandelst«, sagte sie spitz. »Er sorgt sich um dich, versucht dir alles recht zu machen, und du fällst ihm so in den Rücken. Schämst du dich nicht?« Mein Vater drehte sich zu ihr um. »Lass uns das bitte alleine klären«, sagte er. Sie drehte sich beleidigt um und ging. Mein Vater schloss die Tür und setzte sich auf mein Bett. Er sah erschöpft aus.
»Ich dachte, wir hätten Vertrauen zueinander«, sagte er müde. »Bitte mach das doch nicht kaputt.«
»Das will ich nicht, Papa. Es tut mir leid.«
Wir schwiegen.
»Woher weißt du von den Briefen?«, fragte ich ihn schließlich.
»Sie hat sie gefunden«, sagte er und deutete mit einer Kopfbewegung zu meiner Zimmertür. »Sie hat ein Englisch-Wörterbuch gesucht, hat sie gesagt.«
»Glaubst du ihr?«
»Ich weiß nicht … Ich weiß, dass ihr Probleme miteinander habt. Aber versuch doch bitte, es nicht schwerer zu machen, als es ist, ja?« Ich nickte. Mein Vater stand auf, ging aus dem Zimmer und schloss leise die Tür. Ich fühlte mich ohnmächtig.
Am Wochenende fuhr ich zu Valentin und erzählte ihm, was geschehen war. »Hast du wirklich einen Ausreiseantrag gestellt?«, fragte ich ihn.
»Ja, hab ich.«
»Woher wissen die das?«
»Woher wohl«, sagte Valentin schulterzuckend. »So wie deine
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