Ab jetzt ist Ruhe
ging mit dem Sohn des Gerichtsmediziners, der saß neben der Tochter der Modefotografin, die mit dem Filius des Schauspielers befreundet war, und der verliebte sich in die Tochter des Verlegers, die ihm dann doch den Sohn des Philosophen vorzog, auf den es so gut wie alle Mädchen der Schule abgesehen hatten. Doch der wiederum liebte meine wilde, traurige Freundin Susi. Und die war die Tochter eines Tischlers in einem Kaff bei Schwerin. Der Sohn des Philosophen war ein Poet und schickte ihr zarte Gedichte in schönen Briefumschlägen.
Poeten gab es ohnehin eine Menge an meiner Schule. Eines Tages veröffentlichten sie sogar ein kleines Buch. Es trug den Titel »Heute erst habe ich aufgeblickt« und enthielt neben Gedichten auch Illustrationen und Zeichnungen, die andere künstlerisch begabte Lehrlinge beigesteuert hatten.
Ich war künstlerisch nicht begabt und hatte auch sonst keine besonders herausragenden Talente. Durch meinen Gitarrenunterricht hatte ich es zu einer gewissen Fertigkeit auf dem Instrument gebracht und nahm Gesangsstunden – doch auch auf diesem Gebiet bestach ich eher durch gefälliges Mittelmaß. Um trotzdem irgendwie dazuzugehören, schloss ich mich einer kleinen Band an. Wir trafen uns zweimal in der Woche im Lehrlingswohnheim und spielten Songs amerikanischer Folkbands nach, deren Texte wir uns mühevoll von schlechten Kassettenmitschnitten abhörten. Wir taugten nichts, doch wir hatten Spaß. Ich hatte Spaß.
An den Wochenenden organisierten wir in einem kleinen Kellerclub künstlerische Abende, bei denen die Poeten ihre Gedichte vortrugen und wir ambitionierte musikalische Einlagen lieferten. Hin und wieder luden wir richtige Schriftsteller oder Liedermacher ein, hingen an ihren Lippen und diskutierten mit roten Köpfen über das, was wir gehört hatten.
Nur zu Hause war es nicht gut. Da war die Frau, und die Frau war schlimm. Seit der Geschichte mit den Briefen an meinen ältesten Bruder gab sie sich nicht mehr viel Mühe, ihre Verachtung vor mir zu verbergen. Allerdings nur, wenn mein Vater nicht dabei war. In seiner Anwesenheit machte sie meist nur ein leidendes Gesicht, das meinem Vater bedeuten sollte, wie schwer sie es hatte. Vielleicht hatte er ihr nach dem Vorfall damals die Meinung gesagt, vielleicht hatte er sie einfach nur gebeten, mich in Ruhe zu lassen und Frieden zu geben. Er sagte es mir nicht. Und im Grunde war es mir auch egal. Doch das sollte sich bald ändern.
Meinem Vater war es in letzter Zeit nicht besonders gutgegangen. Er hatte Asthma, und sein Arzt hatte ihm eine vierwöchige Kur verordnet, zu der er widerwillig gefahren war. Ich war also vier lange Wochen mit der Frau allein.
Kaum war mein Vater weg, schloss sie das Schlafzimmer ab. Sie tat das aus purer Gehässigkeit – offenbar wollte sie mir das Gefühl geben, ausgeschlossen zu sein. Doch ihr abgeschlossenes Schlafzimmer berührte mich ebenso wenig wie die Tatsache, dass es im Kühlschrank auf einmal nur noch die Wurst gab, die ich eklig fand, und dass auf der Wäscheleine plötzlich kein Platz mehr für meine Klamotten war.
Einmal nur vergaß sie, die Schlafzimmertür zu verschließen. Sie war einkaufen gegangen, die Tür stand offen, und ich betrat das Zimmer. Es war so aufgeräumt wie die ganze Wohnung, und es roch wie überall nach klinischen Reinigungsmitteln. Gelangweilt öffnete ich den Kleiderschrank. Ich wusste, dass mein Vater der Frau ein paar Dinge meiner Mutter geschenkt hatte – vor allem Kleider und Schmuck. Doch ich wusste nicht, wie viel es war, und hatte auch keine Ahnung, warum er das getan hatte. Die Frau trug die Sachen meiner Mutter nicht und legte auch den Schmuck nicht an. Nicht etwa aus Pietätsgründen, sondern vermutlich nur, weil ihr die Kleider nicht passten und sie den Schmuck nicht mochte. Es genügte ihr, die Dinge zu besitzen.
Und da hingen sie nun, die Sachen meiner Mutter: Blusen, Jacken, Pullover, Kleider, Mäntel, Tücher. Und da stand sie, ihre Schmuckschatulle. In dem Augenblick, da ich sie öffnete, befielen mich Trauer und Wut und ein Gefühl, das ich bisher noch nicht kannte – ein heißes, seltsam lustvolles Gefühl: Rachsucht.
Atemlos und wie von Sinnen begann ich, mir die Sachen meiner Mutter anzuziehen. Alles übereinander: die Blusen über das Kleid, darüber die Pullover und Jacken. Ich zog ihren schweren Wintermantel über und schlang mir ihre Tücher um den Hals – der Geruch ihres Parfüms hing noch leise darin und machte mich nur noch
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