Ab jetzt ist Ruhe
keine Rolle. Wir werden in eine andere Wohnung ziehen.«
»Wir?«
»Du und ich. Ich habe schon alles organisiert.«
Er sagte den Satz mit einer Entschiedenheit, die mein schönes Argumentationsgebäude, das ich mir in der U-Bahn aufgebaut hatte, in sich zusammenfallen ließ. Es taugte nichts mehr. Mein Vater hatte das letzte Wort. Wie immer.
Ein paar Wochen später zog ich aus dem Wohnheim aus und kehrte zu meinem Vater zurück. Die neue Wohnung lag im siebzehnten Stock eines Hochhauses, das mit dem davor identisch war und nur ein paar hundert Meter weiter stand. Ich war unglücklich, denn plötzlich war ich wieder so weit weg von allem – von meinen Brüdern, meinen Freunden, meinem freien, bunten Leben und dem Erwachsensein. Erst als ich meinem Vater in langwierigen Verhandlungen ein paar mehr Rechte abgetrotzt hatte, ging es mir wieder besser. Eines der Rechte sah vor, dass ich an den Wochenenden wegbleiben konnte, so lange ich wollte. Da mein Vater nach der Trennung von der Frau wieder mehr arbeitete und öfter verreiste, dehnte ich dieses Recht großzügig auf die ganze Woche aus.
Mit meinen Freunden, zu denen außer Susi und Stefan inzwischen auch noch der dicke Wanja und der schüchterne Uli gehörten, flog ich durch die Nächte der Stadt. Wir hockten in verqualmten Kneipen oder Clubs, gingen in mehr oder weniger öffentliche Konzerte und tanzten uns bei selbstorganisierten Diskotheken in der Schule die Haare nass.
Und dann kam Martin. Stefan und der dicke Wanja brachten ihn manchmal mit. Die Jungs wohnten in derselben Gegend und waren zusammen zur Schule gegangen. Martin war schon neunzehn, er sah gut aus. Mehr als sein Aussehen imponierte mir allerdings sein Gang. Martin ging nicht, er schlenderte. Und weil er groß und schlank war, sah es so aus, als liefe er viel langsamer als die anderen. Damit strahlte er eine Lässigkeit aus, die mir gefiel. Doch Martin schien sich nicht für mich zu interessieren, und auch ich verschwendete nicht viele Gedanken an ihn, weil er ohnehin eine andere Liga war als ich – davon war ich überzeugt.
Irgendwann tauchte Martin auch bei einer unserer Schuldiscos auf. Ich tanzte gerade mit dem schüchternen Uli, als er in den Raum geschlendert kam und sich zu den anderen Jungs gesellte. Er grinste mich an und nickte, ich grinste und nickte zurück. Der Abend war lustig wie immer und verging wie im Flug. Als ich auf die Uhr sah, war es schon weit nach Mitternacht. Ich musste mich beeilen, wenn ich die letzte S-Bahn noch kriegen wollte. Ich verabschiedete mich von meinen Freunden und ging.
Es war Freitagnacht und der Bahnsteig voller Leute. Ich setzte mich auf die Bank und wartete. Und dann schlenderte Martin den Bahnsteig entlang. Lässig wie immer. Ein paar Meter von mir entfernt blieb er stehen, er hatte mich offenbar nicht gesehen. Die S-Bahn kam, ich stieg ein. Martin auch. Ich setzte mich. Er setzte sich schräg hinter mich. Wenn ich aus dem Fenster sah, konnte ich ihn sehen. Er las in einem Buch. Ich rechnete damit, dass er am Bahnhof Ostkreuz aussteigen würde, denn um nach Hause zu kommen, musste er mit einer anderen Linie weiterfahren.
Ostkreuz. Viele Leute stiegen aus, er blieb sitzen. So wie ich. Doch er schien mich immer noch nicht zu sehen. Seltsam, dachte ich und behielt ihn weiter im Auge. Dann kam mein Bahnhof. Ich ging zur Tür und wartete, bis der Zug einfuhr. Martin blieb sitzen. Ich öffnete die Tür und stieg aus. Auf der Treppe hörte ich Schritte und drehte mich um. Es war Martin. Sogar Treppen konnte er lässig hinunterschlendern. Er schaute in eine andere Richtung und schien mich immer noch nicht erkannt zu haben. Ich ging weiter. Er blieb hinter mir und überholte mich auch nicht. So liefen wir fünf Minuten lang – immer etwa zehn Meter Abstand zwischen uns. Es war komisch. Plötzlich war er neben mir.
»Na du?«
»Na?«
»Hier wohnst du also.«
»Ja.«
»Ich bring dich noch nach Hause, ok?«
»Ok.«
»Hast du am Wochenende schon was vor?«, fragte er mich vor meiner Haustür.
»Nö.«
»Gut.«
Und dann gingen wir miteinander. Oder besser: Martin schlenderte neben mir. Viel mehr machten wir nämlich nicht. Wir küssten uns manchmal und waren wahrscheinlich auch verliebt, doch irgendetwas fehlte. Vielleicht war ich noch zu schüchtern oder vielleicht wollte Martin auch gar nicht mehr, doch wir fragten uns das nicht. Wir verstanden uns gut und redeten viel. Dabei stellten wir fest, dass unsere Eltern sich kannten. Auch er war
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