Ab jetzt ist Ruhe
wütender. Schließlich hängte ich mir noch ein paar Ketten um und knipste mir Ohrringe an. Ich schwitzte – doch die Hitze kam von innen. Ich betrachtete mich im Spiegel. Ich sah lächerlich aus – eine traurige, zornige, dicke Comicfigur. Doch ich war zufrieden. Sehr zufrieden.
Ich malte mir gerade aus, wie großartig es sein würde, die Frau in diesem Aufzug zu provozieren, als ich ihren Schlüssel in der Wohnungstür hörte. Ich lief in den Flur und baute mich dort auf. Um meine rebellische Pose zu unterstreichen, versuchte ich die Hände in die Hüfte zu stemmen, was mir allerdings wegen der vielen Klamottenschichten nicht gelang. Doch das war gar nicht nötig – mein Aufzug verfehlte seine Wirkung auch so nicht. Als die Frau mich sah, entglitten ihre Gesichtszüge, und sie sah für ein paar Sekunden unfassbar dämlich aus. Doch sie fing sich schnell und setzte ihr kaltes Maskengesicht wieder auf. Dabei verschwanden ihre ohnehin schon dünnen Lippen gänzlich in ihrem fahlen Gesicht. Und dann holte sie aus und schlug mir ins Gesicht. Sehr hart. Es tat weh, doch ich mochte diesen Schmerz. Er war verdient, und er war gewollt. Zum ersten Mal war diese Frau wirklich aufrichtig zu mir. Ich war froh. Die Fronten waren jetzt klar. Der Feind zum Feind erklärt. Ich hatte gewonnen. Es ging nicht um den Triumph. Es ging um mein Leben.
Nachdem ich in meinem Zimmer die Sachen meiner Mutter wieder ausgezogen, sorgsam zusammengelegt und auf den Schreibtischstuhl meines Vaters gelegt hatte, packte ich meinen Koffer und ging. In einer Telefonzelle wählte ich die Nummer, die mein Vater mir gegeben hatte. Er meldete sich sofort.
»Papa, ich ziehe ins Lehrlingswohnheim.«
»Was? Warum denn das?«
»Einfach so.«
»Was ist denn schon wieder los?« Seine Stimme klang gereizt.
»Nichts. Es geht einfach nicht mehr.« Meine Stimme klang auch gereizt.
»Gut. Aber wenn ich zurück bin, kommst du wieder!«
»Jaja«, sagte ich. »Ich muss los.«
»Ja, aber darüber reden wir noch.«
»Klar.«
»Pass auf dich auf.«
»Mach ich.«
Ich wartete, bis er aufgelegt hatte, dann steckte ich eine neue Münze in den Apparat und rief im Lehrlingswohnheim an. Im Zimmer von Susi war noch ein Bett frei. Zwanzig Mark im Monat mit Frühstück und Abendbrot – das konnte ich mir locker leisten. Auf der Einverständniserklärung, die ich am nächsten Tag mitbringen sollte, fälschte ich die Unterschrift meines Vaters und fühlte mich dem Erwachsensein wieder ein Stück näher. Allerdings war meine Vorstellung davon romantischer als die Realität: Nachtruhe um zweiundzwanzig Uhr, strikte Ordnung und Disziplin – mit einem unguten Gefühl unterschrieb ich die Hausordnung. Erst als Susi mir mit verschwörerischem Blick ihren illegalen Zweitschlüssel für die Haustür zeigte, wurden meine Zweifel zerstreut.
Das Wohnheim war ein normales Mietshaus in Prenzlauer Berg und stand in derselben Straße, in der auch mein mittlerer Bruder wohnte. Er hatte inzwischen Frau und Kind und ein Engagement am Theater. Seine Welt schien in Ordnung, doch das war sie nicht.
Wir trafen uns in der Kneipe an der Ecke. Er bestellte sich ein Bier und einen Korn, ich trank Tee. Er erzählte mir von seinem kleinen Mädchen und seiner wunderschönen Frau, der hellen Tänzerin. Wieder eine Tänzerin, dachte ich. Was hat er nur immer mit Tänzerinnen? Sie drehen sich und fliegen weg von ihm, wenn er zu oft auf den Händen läuft. Das hatte die dunkle Tänzerin auch getan.
»Was ist mit der dunklen Tänzerin aus Amerika«, fragte ich ihn. »Die hast du doch so geliebt?«
»Ja«, sagte er und bestellte sich noch ein Bier. Und dann erzählte er. Die dunkle Tänzerin kam aus Oregon und wollte ihn nach ihrer Ausbildung an der Ballettschule dorthin mitnehmen. Sie träumten von einem gemeinsamen Leben und wollten heiraten. Dreimal stellten sie einen Antrag. Jedes Mal ließ man sie drei Monate warten, dann kam die Ablehnung.
»Ich habe den Alten gefragt, ob er uns hilft«, sagte mein Bruder, als er den dritten Schnaps hinunterstürzte. »Er hat mir die kalte Schulter gezeigt.«
Als die dunkle Tänzerin schwanger wurde, trafen sie sich mit einem Mann, der meinen Bruder für viel Geld in den Westen schmuggeln würde. Viel Geld, das sie nicht besaßen, und zu gefährlich war es auch. Sie verwarfen die Idee. Die Tänzerin ging ins Krankenhaus und unterbrach die Schwangerschaft. Dann ging sie zurück nach Oregon.
»Du wolltest gar nicht mit, oder?«, fragte ich
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