Ab jetzt ist Ruhe
in diesem Leben auch nicht mehr für ihn. Ich mochte den dicken Zeisig, und als ich mich nach vier Wochen von ihm verabschiedete, sah er mich traurig an und sagte: »In diesem Leben werden wir uns wohl nicht mehr wiedersehen.« Er sollte recht behalten, denn kurz darauf begann mein neues Leben.
Sieben
D ie Werkstatt und die Berufsschule befanden sich in der Mitte der Stadt. Ich würde endlich wieder in meiner alten Gegend sein und dort erwachsen werden, wo ich klein gewesen war. Wenn ich aus der S-Bahn stieg, sah ich sogar meine alte Schule und unser Wohnhaus am Alexanderplatz. Es war perfekt, und ich nahm gern den langen Weg auf mich. Er konnte gar nicht lang genug sein, um Abstand zwischen mich und dieses inzwischen so fremde, enge Leben im Hochhaus zu bringen.
Ich mochte das alte Gebäude, in dem ich in den nächsten drei Jahren viel Zeit verbringen würde. Es roch nach Papier, Druckfarbe und heißem Leim. Die Setzerei-Werkstatt befand sich im vierten Stock, und neben den alten Setzkästen, Schriftregalen und Druckpressen gehörte zu ihrem Inventar auch eine dünne, gebeugte Gestalt, die einem Fellini-Film hätte entsprungen sein können. Herr Klemmt hatte rabenschwarzes, dichtes Haar und dicke Brillengläser, die seine ohnehin schon hervorquellenden Augen um das etwa Zwanzigfache vergrößerten. Wenn er nicht gerade vor seinem Setzkasten stand, huschte er geräuschlos durch die Gänge der Setzerei und brabbelte dabei pausenlos zusammenhangloses Zeug, das kein Mensch verstand. Anfangs machten wir uns noch lustig über »das Klemmt«, doch irgendwann schien die Silhouette dieses Faktotums von der Werkstatt absorbiert worden zu sein – wir nahmen ihn nicht mehr wahr.
Im Gegensatz zu den Lehrern, die leider schwer zu ignorieren waren. Chemie hatten wir beim alten Schormüller. Er unterrichtete im Kommandoton, und es hielt sich hartnäckig das Gerücht, er sei ein hohes Tier bei der Wehrmacht gewesen. Unser Physiklehrer war der rothaarige Rambusch, der immer irgendwie schief guckte und schief ging, weshalb er nur »der Schräge« genannt wurde.
Mathematik hatten wir bei Lehmann, der morgens vermutlich eine Stunde im Bad brauchte, um seinen schwarzen Schnurrbart in Schwung zu bringen, und in Russisch wurden wir von Sloboda unterrichtet, dessen rote Nase und Triefaugen von dem zweifelhaften Spaß kündeten, den er sich nach der Arbeit gönnte.
Und dann gab es noch Mister Wunderlich, der Englisch gab und seinem schönen Namen alle Ehre machte. Mister Wunderlich war ein liebenswerter, kauziger älterer Herr, der immer denselben grauen Anzug unter demselben grauen Mantel trug und immer denselben grauen Hut an dieselbe Stelle auf dem Fensterbrett des Unterrichtsraumes legte. Er liebte die englische Sprache und verwandte sehr viel Leidenschaft darauf, uns an dieser Liebe teilhaben zu lassen. Leider gelang ihm das kaum – wir waren zu ignorant und zu dumm, ihm dieses Geschenk zu machen.
Ich fand es toll, in eine Klasse zu kommen, in der sich niemand kannte. Alle waren gleich – es gab noch keinen Wortführer und keinen Klassentrottel. Doch das war schnell geklärt, und auch ich wusste bald, mit wem ich befreundet sein wollte: mit Susi und Stefan. Susi kam aus dem Norden und wohnte im Lehrlingswohnheim. Ich mochte ihren Dialekt und ihre spröde Wildheit, unter der manchmal große Traurigkeit lag. Stefan war lustig. Während des Unterrichts karikierte er mit wenigen Strichen unsere Lehrer und ließ seine Werke durch die Klasse wandern, was unsere Laune merklich hob und die unserer Lehrer im selben Maß verschlechterte.
Manchmal ging ich mit Stefan nach der Schule in die S-Bahn-Klause unterm Bahnhof. Da rauchten wir und diskutierten uns die Köpfe heiß. Ich redete gern mit ihm – er war nicht nur lustig, sondern auch klug. Manchmal jedoch machte mir der Zynismus Angst, mit dem er das Weltende beschwor. »Das Volk ist dumm. Es wird an seiner Dummheit zugrunde gehen«, sagte er mit einer Entschiedenheit, die mich fast wütend machte. »Das Volk ist nicht dumm!«, widersprach ich. »Und warum willst du klüger sein als das Volk?«
»Ich bin es einfach. Das ist eine Tatsache. Und irgendwann wirst du sehen, wie recht ich hatte.«
Ich musste lachen, doch ich glaubte ihm nicht.
Obwohl die Schule, in der wir lernten, eine ganz normale Berufsschule für Druckereiberufe war, tummelten sich hier die Kinder mehr oder weniger bekannter Künstler, Wissenschaftler und Parteifunktionäre. Die Tochter des Filmministers
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