Ab jetzt ist Ruhe
tolle Stiefmutter dich ausspioniert, ist sie vermutlich bei der Stasi.«
Ich zuckte auch mit den Schultern, doch mein Unbehagen wuchs. Ich besorgte mir eine verschließbare Stahlkassette, in der ich von nun an alles aufbewahrte, was ich vor der Frau verbergen wollte. Die Kassette selbst versteckte ich nicht. Ich ließ sie wie eine offene Provokation auf meinem Schreibtisch stehen. Den Schlüssel dazu trug ich immer bei mir. »Muss das sein?«, fragte mein Vater, als er die Kassette sah. Doch er ließ es geschehen.
Die Frau begegnete mir von jetzt an kalt und feindselig. Ich ging ihr aus dem Weg, so gut es ging, doch es sollte nicht mehr lange dauern, bis aus Unbehagen und Trotz offene Feindschaft wurde.
Bis dahin hatte ich anderes zu tun. Ich büffelte für die Abschlussprüfungen. Wenn ich die nicht in den Sand setzte, würde ich nach den Ferien meine Lehre beginnen und hätte nach drei Jahren neben dem Facharbeiterbrief auch das Abitur in der Tasche. Es gab nur zwei Berufe, für die es noch freie Plätze gab: Handelskaufmann oder Schriftsetzer. Ich entschied mich für Schriftsetzer, strengte mich an, lernte, bestand die Prüfungen und bekam den Ausbildungsplatz.
Für die Sommerferien suchte ich mir einen Job in der Glühlampenfabrik. Vier Wochen lang stand ich um fünf Uhr früh auf, schleppte mich mit den anderen grauen Gestalten ins Werk und ging um drei wieder nach Hause. Mein Vater war stolz auf mich. Er hatte sich immer gewünscht, dass eins seiner Kinder mal »richtig arbeiten« gehen würde. Und zwar freiwillig.
Ich tat es nicht freiwillig, sondern wegen des Geldes. Ich verdiente ganz gut, und obwohl die Arbeit eintönig und anstrengend war, gab sie mir das Gefühl von Unabhängigkeit. Dabei lernte ich ein paar der anderen grauen Gestalten kennen – Frauen und Männer, die ihr ganzes Leben offenbar nie etwas anderes getan hatten, als in dieser Fabrik zu arbeiten, und die vermutlich auch nie etwas anderes tun würden. Mein ältester Bruder hatte über sie geschrieben, als er nach dem Gefängnis als Fräser arbeitete. Er hatte sogar Tagebuch geführt. Ich fragte mich, wie er das konnte. Ich war nach den Schichten fix und fertig und wollte nicht mal fernsehen.
Mein ältester Bruder hatte mir über Valentin das Buch geschickt, das im Westen veröffentlicht worden war. Darin las ich seinen fiktiven Briefwechsel zwischen einem Arbeiter und seinem Direktor.
Der Arbeiter hatte keine Lust mehr zu arbeiten und bat den Direktor, ihn für ein Jahr zu beurlauben und ihm weiter das Gehalt zu schicken. Der Direktor war damit nicht einverstanden, er forderte den Arbeiter auf, sofort wieder in der Fabrik zu erscheinen. Der Arbeiter lehnte ab und schlug dem Direktor stattdessen vor, im folgenden Jahr unentgeltlich und auch an den Wochenenden zu arbeiten. Damit würde die Fabrik sogar Gewinn machen. Der Direktor antwortete, dass das alles nicht gehe. Auch er wolle manchmal nicht arbeiten und müsse morgens im Bett weinen. Er habe jetzt wirklich keine Geduld mehr mit ihm. Der Briefwechsel endete schließlich mit dem letzten Brief des Arbeiters aus einer geschlossenen Weberei. Er stellte fest, dass sich mit seinem Aufenthalt dort die Fortführung des Briefwechsels erübrigt habe.
Ich las die Geschichte und musste grinsen. Ich hatte einen Kollegen in der Fabrik, der auch davon träumte, ein ganzes Jahr lang Urlaub zu machen. Der dicke Zeisig. Er war fünfzig, hatte eine Frau, drei Kinder, wog ungefähr zwei Zentner und baute in seiner Freizeit Flaschenschiffe. Er träumte davon, die berühmtesten Segelschiffe der Welt nachzubauen. Er zeigte mir ein Bild von der »Wasa« – einem schwedischen Kriegsschiff, das schon bei seiner Jungfernfahrt gesunken war, wie er mir erklärte. »Zweidecker«, schwärmte er und strich zärtlich über das Foto. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie er mit Fingern, die so dick waren wie kleine Gurken, eine filigrane Takelage auf einem Modellschiff bauen wollte.
»Drei Masten, zehn Segel – ein stolzes Schiff und ein hartes Stück Arbeit. Das schaff ich wohl in diesem Leben nicht mehr«, seufzte er und steckte das Foto wieder in seine Brieftasche.
»In diesem Leben nicht mehr« – das war ein Satz, den der dicke Zeisig oft gebrauchte. In diesem Leben höre er nicht mehr mit dem Rauchen auf, gebe es kein vernünftiges Essen mehr in der Kantine, bewege sich in diesem Land sowieso nichts mehr, und die hübsche Hoffmann aus der Qualitätskontrolle interessiere sich
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