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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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ihn.
    »Ich hab sie so geliebt«, sagte mein Bruder beim vierten Bier. »Aber was soll ich in Amerika. Ich bin Schauspieler und brauche meine Sprache.«
    Nach dem fünften Schnaps sagte er: »Komm, ich zeig dir mein wunderschönes kleines Mädchen.« Während wir die Straße hinuntergingen, lag sein Arm schwer auf meiner Schulter. Er schloss die Tür auf und legte mit verschwommenem Blick den Zeigefinger auf den Mund. »Ganz still«, flüsterte er. »Sonst wacht sie auf.« Das kleine Mädchen schlief. »Sie ist schön, oder?«, sagte er, legte sich auf die Couch und schlief sofort ein. Ich ging ins Wohnheim zurück, und irgendwann schlief auch ich.
     
    Auch mein jüngster Bruder war plötzlich wieder in der Nähe. Er war aus Leipzig zurückgekehrt und lebte mit einer Schauspielerin zusammen, die mit ihren blonden Zöpfen und kajalumrahmten Augen irgendwie französisch aussah. Sie hatte einen Sohn von vierzehn Jahren, mit dem mein Bruder Russisch übte und zur Musik von AC / DC und den Stones Luftgitarre spielte.
    Wie mein größter Bruder konnte auch er witzige Geschichten für Kinder erfinden und machte sie zu Theaterstücken und Hörspielen. Die Figuren in seinen Märchen träumten oft davon, anders zu sein, als von ihnen erwartet wurde. Die Hexe wollte keine Hexe mehr sein und der Wolf nicht mehr der böse Wolf. Seine Geschichten handelten von Wünschen und davon, wie man leben möchte. Die Kinder fanden die Märchen toll, und die aufgeklärten Erwachsenen schauten sich wissend an.
    »Ist ja alles schön und gut«, sagte mein Bruder. »Aber ich will, dass sie sich auch bei meinen anderen Geschichten wissend anschauen. Ich will, dass sie sagen: Seht an, er ist ein großer Schriftsteller. Er ist genauso gut wie sein großer Bruder, der in den Westen gegangen ist.« Doch die Leute sagten immer nur: Seht an, er will genauso gut sein wie sein großer Bruder, der in den Westen gegangen ist. Das machte ihn traurig und wütend, und manchmal sagte er: »Wenn sie wüssten, was für ein Idiot mein großer Bruder ist.« Und dann legte auch er seine Verdrossenheit in tiefe Gläser.
     
    Auf der anderen Seite der geteilten Stadt lebte mein ältester Bruder und blieb fremd. Zwar konnte er jetzt schreiben und arbeiten, bekam Preise und verdiente gut, doch er blieb der Dichter aus dem Osten, der Sohn des Funktionärs, der Dissident. »Sie verstehen nicht, worum es geht«, sagte er im Fernsehen, und seine Lederjacke knarzte. »Ich will nicht, dass Sie mich gut finden, weil ich im Osten verboten war. Ich will, dass Sie mich gut finden, weil ich ein guter Schriftsteller bin«, sagte er. »Das Thema eines Schriftstellers ist doch nicht das Land, in dem er lebt, sondern das Problem, das er hat.«
    Das Problem, das ich gerade hatte, war vergleichsweise klein. Mein Vater wollte, dass ich wieder nach Hause kam. Doch nichts lag mir ferner. Mir ging es sehr gut, mein Blick war weiter geworden, und ich hatte keine Lust zurückzugehen.
    »Wir müssen uns treffen«, sagte mein Vater irgendwann am Telefon.
    »Ich bin fast achtzehn, Papa.«
    »Du bist siebzehn, doch darum geht es jetzt nicht. Wir müssen uns treffen.«
    Wir verabredeten uns in einem Café unterm Fernsehturm. In der U-Bahn überlegte ich mir eine Strategie, mit der ich meinen Vater von seiner fixen Idee, mich nach Hause zu holen, abbringen wollte. Ich würde ihm zunächst ungefragt vorjammern, wie streng die Hausordnung im Wohnheim sei, und mit leidvoller Miene den Verlust meiner Privatsphäre beklagen. Mein Vater würde glauben, er habe leichtes Spiel. Dann würde ich jedoch einräumen, dass ich viel selbständiger geworden sei und auch mit meinem Geld besser haushalten könne. Damit sah ich ihn entwaffnet. Erst wenn gar nichts mehr ging, würde ich auf die Tränendrüse drücken und die Böse-Stiefmutter-Karte spielen. Ich hoffte, das nicht tun zu müssen, denn die Frau war mir inzwischen egal. Ich wollte einfach nicht mehr zurück, weil ich nicht mehr zurückwollte. Ich war stolz auf meine Strategie. Und ich war stolz auf mich. Allerdings nicht sehr lange.
    »Es wird eine Trennung geben«, sagte mein Vater nüchtern.
    »Eine Trennung?«
    »Ja.«
    »Warum denn?«
    »Sie tut Dinge, die ich nicht vertreten kann.«
    »Was für Dinge denn?«
    »Dinge, die man als Genossin nicht tut.« Ich wusste, wie schwer es meinem Vater fiel, über Gefühle zu sprechen, doch dieser geschäftsmäßige, kühle Funktionärston ging mir auf die Nerven.
    »Was macht sie denn?«
    »Das spielt jetzt

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