Ab jetzt ist Ruhe
Frau?«
»Du weißt das gar nicht?«
»Nein. Welche Frau?«
Seit mein ältester Bruder im Westen war, hatten wir kaum Kontakt. Meine Briefe hatte ich ja nie abgeschickt, und wenn ich bei meinen anderen Brüdern war, telefonierten wir meist nur sehr kurz.
Ich erzählte ihm die Geschichte von der Frau. Er legte den Arm um meine Schulter und hörte zu. Wir liefen über die Donau, als sie meine Briefe aus dem Zimmer stahl, im Café ohrfeigte sie mich, weil ich in den Sachen meiner Mutter vor ihr stand, und in der Markthalle erzählte sie herum, dass mein Vater sich nur von ihr getrennt hätte, weil er mit mir ein Verhältnis habe. Mein Bruder ließ mich los und blieb stehen.
»Das hat sie wirklich gesagt?«
»Ja.«
»Und er?«
»Wir sind weggezogen.«
»Und er hat sich scheiden lassen?«
»Noch nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil eine Scheidung nicht richtig wäre in seiner Funktion, sagt er.«
»Seine scheiß Partei und sein scheiß Katholizismus werden ihn noch umbringen.«
Wir gingen weiter.
»Spricht er manchmal von mir?«
»Nein.«
»Meinst du, ich sollte ihn mal anrufen?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht.«
»Ja. Vielleicht.«
Am Abend führte uns Tamás in ein kleines Kino, in dem man an Tischen saß und rauchen konnte. Wir schauten »Fellini’s Casanova«. So surreal wie der Film war auch die Szenerie an diesem Ort. Ambitionierte Kunststudenten in schwarzen Rollkragenpullovern saßen zwischen ältlichen Damen mit Pelzkragen. Eine Kaugummi kauende Kellnerin mit zu kurzem Röckchen unter der zu langen Servierschürze brachte die Getränke, und als die Vorstellung begann, setzte sie sich zu einem der jungen Männer, der offenbar ihr Freund war. Bis zum Ende des Films knutschten sie. Ich mochte den Film nicht besonders. Er war so künstlich und lang, und meine Augen brannten vom Rauch.
Nach der Vorstellung gingen wir in die Hotelbar. Mein Bruder bestellte Whisky, wir tranken und rauchten, und ich hörte ihnen zu, wie sie sich über Filme unterhielten und darüber, welche Geschichten man erzählen sollte. Mein Bruder schrieb gerade am Drehbuch für seinen ersten eigenen Film. Eine Geschichte über eine Verbrecherbande aus dem Berlin der Nachkriegszeit. Eine wahre Geschichte. Seine Freundin würde eine Hauptrolle spielen. Sie tranken darauf. Sie tranken sehr viel darauf. Als es mir zu viel wurde, ging ich schlafen.
Ich wachte auf, als mein Bruder und seine Freundin trunken und schwer ins Zimmer kamen. Sie fielen auf ihr Bett und schliefen sofort ein. Es dämmerte schon. Ich stand auf, zog mich an und schlich mich raus.
Der Bus brachte mich über die Donau zurück in die Straße, wo Tamás wohnte. Ich ging zum Kiosk. Lászlo war gerade dabei, die Pakete mit den Tageszeitungen hineinzutragen.
»Da bist du ja wieder.«
»Ich fliege heute zurück.«
Lászlo goss dampfenden Kaffee aus seiner Thermoskanne und reichte mir den Becher.
»Nimmst du was mit? Ein Andenken?«
Ich dachte an die geklauten Bücher in meinem Rucksack und grinste.
»Ja, irgendwie schon.«
»Gut«, sagte Lászlo. »Andenken sind wichtig. Ich zum Beispiel habe das hier.« Er zog ein zusammengefaltetes Papier aus seiner Brieftasche und gab es mir. Es war eine Ansichtskarte des Marx-Monuments in Karl-Marx-Stadt. Sie war schon grünstichig und ziemlich lädiert. Der Falz ging genau durch den Schädel des Philosophen.
»Wenn du den mal wieder siehst, grüß ihn von mir«, sagte Lászlo und steckte die Karte wieder ein.
»Ich glaube nicht, dass ich den so schnell wiedersehe«, sagte ich.
Ich trank meinen Kaffee aus und wir verabschiedeten uns. Später ärgerte ich mich, dass ich ihn nicht nach seiner Adresse gefragt hatte. Ich hätte ihm gern eine Ansichtskarte geschrieben. Einfach so.
Es war noch immer zu früh, um ins Hotel zurückzukehren. Mein Bruder und seine Freundin schliefen sicher noch, und ich würde mich langweilen. Also ließ ich mich durch die Stadt treiben und sah ihr beim Aufwachen zu. Sie war mir nicht mehr so fremd wie gestern und ließ zu, dass ich in ihr verschwand.
Im Schaufenster eines Ladens sah ich ein Gestell, mit dem man kleine Kinder auf dem Rücken tragen konnte. Der Laden war noch geschlossen, also setzte ich mich in ein nahes Café, zählte mein ungarisches Geld und bestellte mir Palatschinken mit Schokoladensoße und sehr viel Sahne. Dann ging ich in den Laden, kaufte das Tragegestell und kehrte ins Hotel zurück. Mein Bruder und seine Freundin waren gerade aufgestanden und schlichen wortkarg und
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