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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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küsste mich auf die Wange.
    Die beiden bewohnten ein riesengroßes, helles Zimmer mit Jugendstilmöbeln, schwerelosen Stoffen vor hohen Fenstern und Blick auf die Donau. Mein Bruder setzte meinen Rucksack ab, ging zu einem kleinen Tischchen, auf dem diverse Flaschen standen, und goss sich einen Whisky ein.
    »Willst du auch?«
    »Klar.«
    Er füllte noch ein Glas, gab es mir, und wir stießen an. »Auf den sterbenden Kapitalismus!«, prostete er. Ich grinste und nippte und schluckte und genoss die brennende, süße, rauchige Wärme, die sich in meiner Kehle ausbreitete.
    »Kann ich bei euch baden?«
    »Ich lass dir die Wanne ein«, sagte die Freundin meines Bruders und verschwand im Bad.
    »Weiß der Alte, dass du hier bist?«, fragte mein Bruder.
    »Ich glaube nicht.«
    »Er wird’s erfahren.«
    »Von mir aus.«
    »Ist dir das egal?«
    »Ja«, log ich.
    »Entweder du lügst, oder du bist mutiger als ich«, sagte mein Bruder, leerte mit einem tiefen Schluck sein Glas und füllte es nach. »Ich hatte oft Angst vor dem Alten, du nicht?«
    »Doch, manchmal.«
    Ich war froh, als seine Freundin sagte, die Wanne sei voll. Aus meinem Rucksack holte ich die letzten sauberen Klamotten, die ich noch hatte, und verschwand im Bad. Dort legte ich mich in das heiße, duftende Wasser, schloss die Augen und lauschte den gedämpften Stimmen, die von nebenan an mein Ohr drangen. Es war seltsam, die eigene Sprache zu hören und sie nicht zu verstehen. Ich wusch mir die Haare, duschte, trocknete mich ab und zog mich an. Dann ließ ich das dreckige Wasser ab, machte die Wanne sauber und verließ das Bad.
    Mein Bruder und seine Freundin saßen entspannt in den Sesseln, tranken und rauchten. Ich setzte mich dazu, ließ mir von der Freundin meines Bruders ein Glas Sekt geben und rauchte auch. Ich erzählte ihnen von meiner Nacht auf dem Dachboden.
    »Hattest du keine Angst?«, fragte mich die Freundin meines Bruders.
    »Doch.«
    Das Telefon klingelte. Mein Bruder hob den Hörer ab. »Ja, komm hoch«, sagte er und legte auf. »Er ist da«, sagte er zu seiner Freundin.
    Kurz darauf klopfte es, und ein Mann trat ein. Es war der Dichter mit der weiten Stirn. Ich kannte ihn von Fotos und aus dem Fernsehen – er war berühmt, seine Stücke wurden im Osten und im Westen gespielt. Mein ältester Bruder hatte oft von ihm gesprochen. Der Dichter mit der weiten Stirn hatte ihm damals geholfen, sein erstes Buch im Westen zu veröffentlichen. Sie waren Freunde.
    Die beiden Männer umarmten sich, und der Dichter küsste die Freundin meines Bruders auf die Stirn. Dann kam er zu mir, gab mir die Hand und schaute mich durch seine dunkelgerahmte Brille mit freundlichen Augen an.
    »Die kleine Schwester«, sagte er.
    »Ja.«
    »Das macht nichts, ich werde dich vermutlich trotzdem adoptieren.« Ich lächelte verlegen und mochte ihn. Er setzte sich auf einen Stuhl und zündete die Zigarre an, die in seiner linken Hand erkaltet war. Mein Bruder schenkte ihm einen Whisky ein.
    »Wie geht es dir?«, fragte der Dichter meinen Bruder.
    »Gut. Ich arbeite. Doch es ist auch schwer.«
    »Warum ist es schwer?«
    »Mir fehlen die Widerstände. Im Osten waren die Wände aus Beton, im Westen sind sie aus Gummi. An denen prallt alles ab.«
    Der Dichter mit der weiten Stirn nickte und zog an seiner Zigarre. »Deshalb bin ich nicht in den Westen gegangen«, sagte er. »Und ich kann ja auch in der DDR schreiben, was ich will – sie denken immer, das verstünde sowieso niemand.« Er nippte an seinem Glas. »Und es ist nicht das Schlechteste, mit je einem Bein auf beiden Seiten der Mauer zu stehen.«
    Der Dichter mit der weiten Stirn sprach mit ruhiger Stimme, und manchmal wirkte es fast so, als versteckte er sich hinter seiner Brille und dem dicken Zigarrenrauch. So, als wollte er verschwinden hinter seinen eigenen Worten. Sie redeten über Politik, Anarchie und Kunst. Ich verstand nicht immer den Sinn ihrer Worte, doch ich hörte ihnen gern beim Nachdenken zu. So verging der Nachmittag, und irgendwann kam die Frau des Dichters. Sie war eine hochgewachsene bulgarische Schönheit mit einem schweren Knoten im Haar. Auch sie arbeitete am Theater, übersetzte und inszenierte. Sie begrüßte uns und schaute mit leichtem Vorwurf auf das Glas in der Hand ihres Mannes. »Du solltest auch mal was essen«, sagte sie. »Gute Idee«, rief die Freundin meines Bruders bestens gelaunt und berauscht vom Sekt in ihrer Hand, und auch ich spürte in meinem Kopf ein leichtes, wohliges

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