Ab jetzt ist Ruhe
Flirren. Wir verließen das Zimmer und stiegen in den Fahrstuhl. Der Dichter mit der weiten Stirn stand vor seiner Frau und drohte ihr scherzhaft mit dem Finger. Das sah lustig aus, weil er kleiner war als sie und nach oben schauen musste. Ich lachte. Wir lachten. Sogar mein Bruder lachte. Wir gingen ins Hotelrestaurant und aßen etwas.
»Sie haben hier ein Schwimmbad – so was hast du noch nicht gesehen«, raunte mir die Freundin meines Bruders zu. »Aber ich muss mir einen Badeanzug kaufen. Kommst du mit?« Wir beide verließen das Restaurant und gingen in einen Klamottenladen, in dem man nur mit Westgeld bezahlen konnte.
»Willst du was?« Ich schüttelte den Kopf. »Ach komm«, sagte sie. »Such dir was aus! Wir haben Geld.«
»Ich brauche nichts«, sagte ich und bereute diesen Satz sofort, denn der Laden war voller Sachen, die ich sehr gut hätte gebrauchen können. Die Freundin meines Bruders kaufte sich einen schwarzen Badeanzug, und wir kehrten ins Hotel zurück. Unterwegs erzählte sie mir von dem Film, in dem sie eine Hauptrolle gespielt hatte und der jetzt einen Preis nach dem anderen gewann. Der Film erzählte die Geschichte eines kleinen Jungen, der an seinem dritten Geburtstag beschließt, nicht mehr zu wachsen. Der Junge hieß Oskar – genauso wie der Preis, für den der Film nominiert werden sollte.
»Ich sollte eine Nacktszene spielen, wollte ich aber nicht, und sie mussten sich was einfallen lassen, damit es trotzdem so aussah, als wäre ich nackt«, erzählte die Freundin meines Bruders, als wir im Hotel unsere Badesachen anzogen.
»Hast du eigentlich einen Freund?«
»Ich hatte einen, aber das ist vorbei.«
»Hattest du Liebeskummer?«
»Ein bisschen.«
»Ein bisschen?« Sie zündete sich eine Zigarette an und steckte sie in ihren rechten Mundwinkel, um eine Flasche Sekt zu öffnen. »Wie geht denn das?«
»Ich weiß nicht, es war nicht so schlimm.«
»Dann war es keine Liebe«, erklärte sie, während sie zwei Gläser füllte. »Na ja, manche Leute brauchen ein ganzes Leben, um die große Liebe zu finden«, sagte sie mit gespieltem Pathos. »Sieh mich an!« Ich sah sie an. Sie war nur ein paar Jahre älter als ich, Mitte zwanzig ungefähr. Doch sie hatte schon eine sechsjährige Tochter aus der Zeit, bevor sie meinen Bruder traf.
Sie nahm eines der Gläser und trank es aus, bevor der Sekt aufhörte zu schäumen. Ich nippte an meinem und erzählte ihr, dass ich außer ein bisschen Fummeln und Knutschen noch keinen Sex hatte.
»Macht dir das Sorgen?«
»Na ja, ich bin immerhin schon achtzehn.«
»Na und? Ist doch völlig normal. Streng dich bloß nicht an, dann macht’s keinen Spaß.«
Wir leerten unsere Gläser und gingen ins Schwimmbad des Hotels. Um das türkisfarbene Becken standen majestätische Säulen, durch die Glaskuppel fiel mildes Licht, und wir glitten leicht durch das schimmernde, weiche Wasser.
Später gingen wir in die Bar, wo mein Bruder und der Dichter mit der weiten Stirn rauchten, tranken und redeten. Mein Bruder erzählte von dem Stück, an dem er gerade arbeitete. Es handelte von dem Dichter Georg Heym, der mit nur vierundzwanzig Jahren in der Havel ertrank, als er seinen Freund retten wollte, der beim Schlittschuhlaufen in das Eis eingebrochen war. »Er hatte auch einen autoritären Vater«, sagte mein Bruder. »Und er hatte auch ein zerrissenes Herz.« Der Dichter mit der weiten Stirn hörte ihm aufmerksam zu und nickte beifällig.
»Wie ist es für dich, im Westen Theater zu machen«, fragte er.
»Sie müssen immer über alles reden«, antwortete mein Bruder. »Vor allem die Frauen. Sie müssen alles zerreden. Ich würde so gern probieren, aber sie müssen immer wieder diskutieren. Sie sagen: Wir sind hier nicht im Osten, wo man uns Vorschriften macht. Wir reden hier über alles. Das macht mich krank.«
Der Dichter mit der weiten Stirn zog an seiner Zigarre, hüllte sich in eine warme Wand aus Rauch und sagte: »Die Tragödie der Theaterleute im Westen ist, dass sie Haufen von Wissen auftürmen und nicht wissen, was sie damit anfangen sollen. Also flüchten sie sich in Diskussionen statt zu arbeiten. Doch vielleicht ist es auch eine Komödie.« Den beiden Männern zuzuhören gab mir das Gefühl, als säße man selbst im Theater.
Am nächsten Tag ging ich mit meinem Bruder spazieren.
»Wie geht es dem Alten?«
»Nicht so gut, glaub ich.«
»Warum nicht?«
»Die Frau, mit der er verheiratet ist, macht ihm das Leben schwer.«
»Welche
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