Ab jetzt ist Ruhe
vorsichtig aneinander vorbei.
»Ich muss bald los«, sagte ich. Mein Bruder holte einen Stapel Schallplatten aus seinem Koffer.
»Such dir aus, was du willst«, sagte er. »Pink Floyd, Bob Dylan, Randy Newman – alles meins.« Dann drückte er mir noch einen Hundertmarkschein in die Hand. »Für Jeans oder so.«
»Danke!«
»Schon gut.«
Mein Bruder und seine Freundin brachten mich mit dem Taxi zum Flughafen, winkten mir von der Aussichtsplattform zu, ich winkte zurück, stieg in die Maschine und flog in mein altes Leben zurück. Reich und glücklich.
»Wie war’s?«, fragte mein Vater, als ich zurückkam.
»Schön.«
»Mehr nicht?«
»Nö. War schön.«
»Gut. Und wo hast du das da her?« Er zeigte auf die Schallplatten, die zwischen den Klamotten auf meinem Bett lagen.
»Die hab ich da gekauft.«
»Aha«, sagte mein Vater in einem Ton, der mich beunruhigte. Mein Herz klopfte schneller. Er nahm die Platte von Bob Dylan in die Hand und betrachtete sie.
»Blonde on Blonde? Komischer Titel … Und der junge Mann hier sieht ziemlich wütend aus«, sagte er und hielt mir das Cover vor die Nase. »Doch wütende junge Männer scheinen ja modern zu sein.«
Er legte die Platte wieder zurück und ging aus dem Zimmer. Ich atmete aus. Entweder er wusste von nichts, oder er ließ sich nichts anmerken. Egal. Ich würde den Teufel tun, das herauszufinden.
Am nächsten Tag wollte ich meinen mittleren Bruder besuchen, um ihm das Tragegestell für sein Kind zu geben. Die helle Tänzerin öffnete mir, das kleine Mädchen auf dem Arm.
»Er ist nicht da«, sagte sie. »Willst du reinkommen?«
Ich folgte ihr in die Küche. Sie setzte das Kind in sein Stühlchen und kochte Tee. Ich machte Faxen, und das Mädchen lachte mit den Augen meines Bruders.
»Wir sehen ihn kaum noch«, sagte die helle Tänzerin. »Er dreht oder schläft, und dazwischen trinkt er zu viel.«
»Was dreht er denn?«
»Einen Film über eine Schlagersängerin, die mit ihrem Leben nicht klarkommt, glaub ich.«
»Eine Schlagersängerin?« Ich dachte sofort an den schlimmen Film, den ich mit meiner Freundin Katja im Fernsehen gesehen hatte, als wir uns das erste Mal betranken, um uns später auf dem Fensterbrett der Nachbarin darüber zu beschweren. Die helle Tänzerin zielte mit einem Löffel Brei, der die Farbe von blasser Leberwurst hatte, auf den Mund des kleinen Mädchens. Ich trank schnell einen Schluck Tee und konzentrierte mich auf den Mund der hellen Tänzerin, der sich auf wundersame Weise gleichzeitig mit dem des Kindes öffnete.
»Ja, eine Schlagersängerin«, sagte sie. »Er hat für die Rolle sogar Saxophon gelernt. Da hat er nicht getrunken, das war schön.«
»Und jetzt trinkt er?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht trinkt er auch nicht. Er dreht ja. Da darf man doch nicht trinken, oder?«
»Nein. Bestimmt nicht.«
Sie nickte und öffnete den Mund, worauf das kleine Mädchen ebenfalls nickte und seinen Mund öffnete. Die helle Tänzerin versenkte einen weiteren Löffel Brei darin.
»Wenn du willst, pass ich mal auf euer Kind auf.«
»Danke«, sagte sie. »Und danke für das Trageding.«
Ich trank meinen Tee, schnitt dem Kind noch ein paar Grimassen, bis es wieder mit den Augen meines Bruders lachte, und verabschiedete mich.
»Sieh an, die Weltreisende«, sagte mein jüngster Bruder, als er mir die Tür öffnete. »Geh schon mal rein, ich hol mir nur ein Bier. Willst du auch eins?«
»Nee, Bier schmeckt mir nicht«, sagte ich.
Er verschwand in die Küche, ich ging ins Zimmer und warf einen Blick auf das Blatt, das in seine Schreibmaschine gespannt war. Da stand nur eine Zeile: »Die Kellner kommen und gehen. Wir bleiben.« Witzig, dachte ich.
Mein Bruder kam zurück mit einer Flasche Bier in der Hand. »Ich weiß noch nicht, was das wird«, sagte er, als er mich lesen sah. »Vielleicht ein Theaterstück oder ein Hörspiel oder ein Roman oder ein Film. Vielleicht auch nur ein Gedicht. Aber eigentlich ist es auch egal, weil sie es sowieso nicht veröffentlichen, die Arschlöcher.«
Ich holte »Das Schloss« von Franz Kafka aus meiner Tasche und gab es ihm. Es war eines der Bücher, die ich in Szeged geklaut hatte. Ich hatte es doppelt – das war mir im Eifer des Gefechts gar nicht aufgefallen.
»Kannst du behalten«, sagte mein Bruder, nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte. »Hab ich schon.« Er nahm einen Schluck aus seiner Flasche und fragte mich, wie es in Budapest gewesen sei. Ich erzählte ihm
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