Ab jetzt ist Ruhe
sind nicht schlechter als seine«, sagte mein jüngster Bruder.
»Ich mag deine Kinderhörspiele lieber als seine Gedichte«, sagte ich. »Die verstehe ich wenigstens.«
Mein Bruder lächelte müde, gab mir die Leiter, und ich ging.
In der Wohnung riss ich mein schlechtes Gewissen mit der Tapete von den Wänden. Ich hatte mir ein Kofferradio gekauft, hörte einen amerikanischen Sender und ließ mir von Neil Young, Bruce Springsteen und Marvin Gaye den Rhythmus vorgeben. Wenn ich abends nach Hause kam, waren die Schuldgefühle wieder da, und ich kam mir vor, als führte ich ein Doppelleben.
»Wie läuft’s bei deiner Arbeit?«, fragte mein Vater.
»Gut.«
»Und sonst?«
»Nichts weiter.«
»Was machst du am Wochenende?«
»Nichts Besonderes, ich helfe einem Kollegen beim Renovieren.«
»Irgendwann wirst du deine eigene Wohnung renovieren«, seufzte mein Vater. Ich fühlte mich beschissen, drehte in meiner Wohnung das Kofferradio laut und riss zu Led Zeppelin und AC / DC wütend das Linoleum von den Dielen.
Es war inzwischen Winter geworden, ich hatte mir Kohlen besorgt, und es machte mir Spaß, den Kachelofen zu heizen. Davon hatte ich immer geträumt. Ich genoss die Wärme, die ich selbst produziert hatte, und war stolz auf mich.
An einem Tag im Dezember spielte der amerikanische Sender nur noch John Lennon. Der Moderator hatte Tränen in der Stimme. Ich saß in meiner Wohnung und konnte es nicht fassen.
Nachdem ich den letzten Müllsack in den Hof geschleppt hatte, beschloss ich, meinem Vater die Wahrheit zu sagen. Doch der hatte zunächst ein anderes Problem: »Jetzt bist du erwachsen, hast eine gute Arbeit – wie stellst du dir eigentlich deine politische Entwicklung vor?«
Auch das noch. Ich hatte geahnt, dass auch diese Unterhaltung irgendwann kommen würde, und ich hatte keine Lust darauf. Politik interessierte mich nicht besonders, und die »Tagesschau« langweilte mich genauso wie die »Aktuelle Kamera« oder die Berichte in der Zeitung, die ich in meine Setzmaschine hämmerte. Ich fand, dass es viel Ungerechtigkeit in der Welt gab, und war mit dem Sozialismus im Großen und Ganzen einverstanden. Manchmal hielt ich mich deshalb für oberflächlich und dumm. Meine Brüder hatten schließlich im Gefängnis gesessen, bei der Armee rebelliert oder waren von der Uni geworfen worden. Ich hingegen hatte keine besonders markanten oder gar provokanten Ansichten und fiel nicht weiter auf. Das störte mich nicht, denn mein Leben war auch so interessant genug. Doch mein Vater schien sich zu sorgen, dass auch ich auf Abwege geraten könnte, und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ich Mitglied der Partei würde. Er sprach es nie offen aus, doch das musste er auch nicht – ich wusste es. Und er wusste, dass ich es wusste.
»Meine politische Entwicklung ist in Ordnung, Papa«, wiegelte ich ab. »Mach dir keine Sorgen.« Mein Vater sah mich prüfend an. »Ich denke, du weißt, was von dir erwartet wird«, sagte er in jenem autoritären Ton, den ich verabscheute.
»Ja klar.« Ich hatte keine Lust auf Streit – den würde ich sowieso verlieren. Nein, eigentlich hatte ich Angst davor. Ich fühlte mich unwohl und in die Enge getrieben. Auf der anderen Seite quälten mich meine Schuldgefühle, weil ich ihn mit der Wohnung hinterging. Ich hatte etwas gutzumachen.
»Ich werde einen Antrag stellen, dass sie mich in die Partei aufnehmen«, sagte ich und hasste mich für meinen Opportunismus.
»Ich bin sehr stolz auf dich«, sagte mein Vater strahlend und klopfte mir wieder auf die Schulter. »Das ist ein großer Schritt.« Ja. Ein großer Schritt. Fragt sich nur, wohin.
»Ich habe übrigens eine Wohnung gefunden.«
»Was hast du?«
»Eine Wohnung. Ich renoviere sie gerade.« Ich hörte mir selbst ungläubig zu.
»Du hast eine Wohnung?« Mein Vater war fassungslos. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«
»Ich hab mich nicht getraut.«
Mein Vater sackte in sich zusammen und sah auf einmal sehr alt aus.
»Es tut mir leid, Papa.«
»Weißt du was«, sagte mein Vater. »Das Schlimme ist ja nicht, dass du ausziehen willst. Dafür habe ich doch Verständnis. Schlimm ist, dass du mir nicht vertraust und mich belügst.«
»Ich hab dir doch die Wahrheit gesagt.«
»Du belügst mich auch in anderen Dingen.«
Ich schwieg. Ich dachte an Ungarn und die Briefe an meinen ältesten Bruder. Ich dachte an all die Dinge, die ich meinem Vater schon verheimlicht oder vorgegaukelt hatte. Er hatte recht,
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