Ab jetzt ist Ruhe
interessiert umdrehten. Ich hatte große Lust, sofort zu flüchten, doch ich hatte keine Chance. Also erzählte ich die Geschichte, die ich mir für diesen Fall zurechtgelegt hatte: Mein Großvater lebe in London, und die Jüdische Gemeinde habe Emigrantenkindern wie mir eine solche Reise ermöglicht, damit sie ihre betagten Verwandten noch einmal sehen könnten. Es war eine glatte Lüge, die ich damit rechtfertigte, dass die Wahrheit keinem nütze und stattdessen nur Neid und Missgunst schüren würde. Doch diese Version schien alles nur noch schlimmer zu machen.
»Interessant«, sagte eine junge Frau. »Als meine Oma in Dortmund neulich siebzig geworden ist, haben sie nicht mal meinen Vater rübergelassen.«
»Tja«, sagte Peer grimmig. »Alle sind gleich, aber manche sind eben gleicher. Und ihr Vater ist doch Parteibonze. Der hat da bestimmt schön nachgeholfen.«
»Lasst sie doch in Ruhe.« Katja trug die Bluse, die ich ihr mitgebracht hatte. »Es ist doch nichts dabei.«
»Du findest, es ist nichts dabei, wenn so eine Bonzentochter gemütlich in den Westen fährt und andere in den Knast wandern, wenn sie’s heimlich versuchen?« Peer war außer sich. »Das ist doch wirklich das Letzte!«
»Stimmt«, pflichtete ihm die junge Frau bei und warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Das ist das Allerletzte. Hast du’s wenigstens genossen?«
»Jetzt hört doch mal auf«, mischte sich ein anderer ein. »Man weiß doch, wie das läuft, und sie kann ja nun auch nichts dafür.«
»Warum nimmst du sie in Schutz, Toni?«, entrüstete sich die junge Frau. »Ein Kumpel von mir sitzt seit vier Monaten wegen versuchter Republikflucht im Knast, und Peer wird wegen seines Antrags nur noch schikaniert. Ich habe überhaupt keine Lust, mir ihre tollen Geschichten aus dem Westen anzuhören.«
»Ich hab doch gar keine Geschichten erzählt«, sagte ich. Meine Unsicherheit und mein Schuldgefühl wandelten sich in Wut. »Ich bin eine Bonzentochter, ich war in London, und ich weiß, dass das ungerecht ist. Doch das gibt euch noch lange nicht das Recht, mich hier fertigzumachen.« Ich drängte mich an den Leuten vorbei und verließ die Küche. »Feige ist sie auch noch«, höhnte Peer. »Typisch.«
»Ihr seid Idioten«, rief Katja und kam mir hinterher. »Tut mir leid. Ich hätte wohl doch besser die Schnauze halten sollen.«
»Ach lass mal.« Ich winkte ab. »Es zu einem Geheimnis zu machen ist ja nun auch nicht gerade besonders heldenhaft. Und die kriegen sich schon wieder ein.«
»Na gut«, sagte Katja. »Tut mir trotzdem leid.« Sie verschwand wieder in der Küche.
»Teufel Alkohol.« Jetzt stand der Typ neben mir, der mich eben verteidigt hatte und den sie Toni nannten. »Wärst du früher gekommen, hätten sie nur getuschelt.«
»Ist auch nicht besser, oder? Dann lieber so.«
»Hast du eigentlich überlegt dazubleiben?«
»In England? Nicht ernsthaft.«
»Nicht ernsthaft?«
»Naja. Es war eher ein Gedankenspiel. Was wäre, wenn, und so.«
»Ja, und?«
»Ich hab zu viel Schiss, glaube ich.«
»Wovor denn?«
»Keine Ahnung. Vor einer unsicheren Zukunft. Fremd zu sein. Niemanden zu kennen …«
»Du hättest bei deinem Großvater bleiben können.«
»Ja vielleicht. Und vielleicht bin ich ja wirklich zu feige.«
»Na ja, man könnte es auch anders sehen. Man könnte auch sagen, es war mutig, wieder zurückzukommen.«
»Quatsch. Ich hab hier keine Probleme. Für mich war es nicht mutig, wieder zurückzukommen. Mir geht es ja gut.«
»Also, ich wäre wahrscheinlich dageblieben.«
»Und dann?«
Toni erzählte, dass er Fotograf bei einer Berliner Zeitung sei und keine Lust mehr habe, immer nur stolze Arbeiter und Bauern vor Kränen und Mähdreschern zu knipsen. »Ich will die Welt fotografieren«, sagte er. »Das ist doch ein ziemlich normaler Wunsch, oder?«
»Ja. Ist es. Und warum versuchst du nicht auch, in den Westen zu gehen?«
»Na ja. Mit stolzen Arbeitern und Bauern vor Kränen und Mähdreschern verdient man gut und wird bequem. Und nach Feierabend Hinterhöfe zu fotografieren erdet ungemein. Gibt es in London auch welche?«
»Klar«, sagte ich und erzählte ihm von dem Punkkonzert, das ich gesehen hatte. »Das war auch nicht viel anders als hier, nur eben nicht illegal.«
Wir unterhielten uns über Musik und Bücher und stellten fest, dass wir beide gerade »Mein letzter Seufzer« von Luis Buñuel gelesen hatten. Das wunderte uns nicht, denn das Buch war vor kurzem erst erschienen, und man hatte es
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