Ab jetzt ist Ruhe
nur unter dem Ladentisch bekommen. Und Bücher, die es nur unter dem Ladentisch gab, schienen immer alle gleichzeitig zu lesen. Wir sprachen über Politik und darüber, dass mit dem neuen Mann, den sie in der Sowjetunion gerade zum Generalsekretär gewählt hatten, vielleicht bald einiges anders würde. Wir redeten noch viel und verstanden uns gut. Ich ging nicht mehr in die Küche und Toni auch nicht. Es wurde spät, wir gingen zusammen, stiegen in mein Auto, und ich brachte ihn nach Hause.
Eine Woche später rief Toni mich an. Katja habe ihm meine Nummer gegeben, und ob ich Lust hätte, mit ihm ins Kino zu gehen. Er habe Karten für einen japanischen Film ergattert, der nur ein einziges Mal im Französischen Kulturzentrum Unter den Linden gezeigt werde. »Den haben sie vor ein paar Jahren im Westen verboten«, sagte Toni. »Zu pornographisch oder so.« Ein Porno? Ich hatte noch nie einen Porno gesehen. Und dann gleich mit Toni, den ich kaum kannte? Komische Vorstellung … Ich sagte zu.
Wir trafen uns eine Stunde vorher in einem Café gleich nebenan, das wegen des schrägen Publikums, das hier von morgens bis abends herumlungerte, auch »Kaputt« genannt wurde. Es war das Wohnzimmer für mehr oder weniger gescheiterte Studenten, echte und eingebildete Philosophen, umstrittene Künstler und geheimnisvolle Frauen. Auch jetzt war der Laden voll, und der Rauch lag wie ein großer schwerer Nebel über der Bar.
Toni bestellte uns Martini dry – den Cocktail, von dem Luis Buñuel in dem Buch, das wir beide gelesen hatten, schwärmte. Er beflügle die Phantasie, schrieb er. Doch zu trinken, ohne zu rauchen, sei unmöglich. Also tranken und rauchten wir und plauderten uns leicht dem skandalösen Ereignis entgegen, das uns bevorstand.
Der Kinosaal war bis auf den letzten Platz besetzt, und es lag eine seltsame Spannung im Raum. Die Leute flüsterten, als würden sie etwas Verbotenes tun, und man spürte eine erregte Vorfreude wie vor der Bescherung.
Der Film lief in Originalfassung mit französischen Untertiteln und erzählte die bizarre Geschichte zweier Liebender, die immer obsessiveren und schmerzvolleren Sex miteinander haben, bis die Frau den Mann mit dessen Einverständnis schließlich in Ekstase erdrosselt und mit einem seligen Lächeln kastriert. Ich wusste nicht so recht, was ich von der Sache halten sollte. Obwohl die Sexszenen selbsterklärend waren, quatschten die beiden unentwegt, und es kostete mich doch einige Mühe, ihr japanisches Geschwafel erotisch zu finden. Außerdem ging mir der verirrte und mit japanischer Folklore unterlegte Blick der Frau bald auf die Nerven. Trotzdem hatte der Film einen eigenartigen Sog, dem sich offenbar niemand im Kino entziehen konnte. Als das Licht im Saal wieder anging, blieben wir alle noch eine Weile sitzen, sahen uns etwas betreten an und verließen mehr oder weniger schweigend das Kino.
»Komischer Film, oder?«, sagte Toni, als wir wieder im »Kaputt« saßen.
»Ja, sehr komisch.«
»Hast du vorher schon mal einen Porno gesehen?«
»Nein, du?«
»Ja, ein Mal. Bei einem Kumpel. Hat mich aber nicht angemacht.«
»Und der Film jetzt?«
»Auch nicht. Dich?«
»Nee«, sagte ich und zögerte einen Moment, bevor ich weitersprach. »Ist irgendwie komisch, in Gesellschaft anderer erigierte Penisse zu sehen.« Toni grinste. Ich war erleichtert. Wir redeten noch eine Weile über den Film und beschlossen, bald mal wieder zusammen ins Kino zu gehen. Nach einem weiteren Martini dry fanden wir, dass wir uns eigentlich schon morgen wiedertreffen könnten, und nach dem letzten Glas sahen wir keinen Grund, uns heute noch zu trennen.
Wir liebten uns im Dunkeln, und dann verliebten wir uns im Hellen. Mal kam Toni zu mir, mal war ich bei ihm. Manchmal fuhren wir mit dem Auto nachts ziellos durch die Stadt und hörten seine oder meine Kassetten. Die Stadt veränderte sich mit der Musik – mal war sie hart und kalt, mal mild und poetisch. Manchmal begleitete ich Toni, wenn er seine Hinterhöfe fotografierte, manchmal kam er mit, wenn ich mit der Band spielte. Toni tat mir gut. Mein Herz schlug warm, ich mochte mich mehr und misstraute mir weniger. Ich liebte die Art, wie mein Freund durchs Leben ging – mit federndem Gang und verrückten Gedanken. Toni war sicher, dass es Außerirdische gab: »Wir können nicht die Einzigen sein«, sagte er. »Bei der Größe des Universums widerspricht so viel Blödheit auf einem Haufen doch den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit,
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