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Ab jetzt ist Ruhe

Ab jetzt ist Ruhe

Titel: Ab jetzt ist Ruhe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Brasch
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oder?«
    Er interessierte sich für seltsame Phänomene: »Wusstest du, dass die Seegurke ihre Gedärme auswerfen kann, um Feinde abzulenken?«
    Und er verfügte über ein erstaunliches enzyklopädisches Wissen: »Der Rabbi von Venedig hieß Katzenellenbogen. Abgefahren, oder?«
    Es machte Spaß, mit ihm zu reden und ihm zuzuhören. Er war chaotisch und manchmal auch sehr ungeduldig. Wenn jemand etwas sagte, das ihm missfiel, pflegte er verächtlich den Mund zu verziehen – so wirkte er auf Leute, die ihn nicht kannten, mitunter etwas arrogant.
    Mein Vater aber mochte meinen Freund. Seit er damals Finke vergrault hatte, war Toni der erste Mann, den ich ihm vorstellte. Auch mein jüngster Bruder verstand sich mit ihm, und ich hatte das Gefühl, dass er mich sogar ein bisschen ernster nahm, seit Toni an meiner Seite war.
    »Dein Freund ist gut«, sagte er. »Aber wenn der Alte ihn auch gut findet, ist mit dem bestimmt was faul.«
    Als ich meinem ältesten Bruder am Telefon von Toni erzählte, hörte er nicht zu. »Jaja«, sagte er. »Hör mal. Ich will rüberkommen und meinen DDR -Pass verlängern, und ich will mich mit Vater treffen. Holst du mich ab?«
    Er kam mit seinem englischen Pass über den Grenzübergang am Checkpoint Charly. Ich wusste, dass er mit dem Auto kommen wollte, doch als er in seinem dunkelgrünen Jaguar und mit Kojak-Brille durch den Grenzpunkt rollte, hätte ich ihn fast nicht erkannt. Neben ihm saß die Schweizer Schauspielerin, mit der er seit einer Weile zusammen war. Sie war so schön wie alle seine Frauen und so anders wie jede von ihnen. Ich mochte sie. Wir setzten sie vor dem Haus eines Freundes der beiden ab und fuhren zu meinem Vater. Mein Bruder war nervös.
    »Wie geht es ihm? Meinst du, ich kann mit ihm reden?«
    »Ich weiß nicht, ich glaube, er ist aufgeregt.«
    »Ich auch.«
    Als wir das Auto vor dem Haus meines Vaters abstellten, registrierte ich, wie sich hinter seinem Fenster die Gardine bewegte.
    »Hier wohnt er jetzt?« Mein Bruder schüttelte den Kopf. »Das ist ja grauenvoll.«
    »Er sagt, er fühlt sich wohl.«
    Mein Bruder trat seine Zigarette aus, und kaum hatten wir geklingelt, summte auch schon der Türöffner, und wir gingen hinein. Mein Vater stand bereits im Hausflur. »Da seid ihr ja«, rief er und streckte meinem Bruder die Hand entgegen, als begrüße er einen ausländischen Staatsgast. Mein Bruder nahm die Hand und schüttelte sie. »Hallo Vater.« Als sich die beiden Männer gegenüberstanden, sah ich, wie ähnlich sie sich geworden waren. Das Haar meines Bruders hatte sich in den letzten Jahren zunehmend gelichtet, er trug es so kurz wie mein Vater. Beide hatten den gleichen ausgeprägten Hinterkopf, und unter der hohen Stirn lagen die gleichen dunklen Augen. Nur die Nase meines Bruders war ein Geschenk meiner Mutter.
    »Ich habe Kaffee gemacht«, sagte mein Vater. »Kommt rein.«
    Wir folgten ihm ins Wohnzimmer und setzten uns auf das Sofa. Der Tisch war mit dem guten Porzellan gedeckt, das ich zuletzt gesehen hatte, als meine Mutter noch lebte. Mein Vater hatte Streuselkuchen gekauft und sogar Schlagsahne gemacht. Er wollte, dass es schön ist. Vielleicht wollte er auch, dass alles wieder gut wird.
    Er goss uns Kaffee ein, und seine Hand zitterte leicht. Mein Bruder sah ihm ins Gesicht, während mein Vater sich sehr auf die Tasse konzentrierte, die er gerade füllte. Dann stellte er die Kanne ab, setzte sich in den Sessel, legte sich ein Stück Kuchen auf den Teller und griff nach der Schüssel mit der Schlagsahne. Es schien, als habe er Angst, zur Ruhe zu kommen. »Ach, jetzt habe ich den Löffel vergessen.« Er stand wieder auf und ging in die Küche, um den Löffel zu holen. Er setzte sich wieder und tat sich Sahne auf den Kuchen. Mein Bruder ließ ihn nicht aus den Augen.
    »Wie geht es dir, Vater?«, fragte er ihn schließlich.
    »Geht so«, sagte mein Vater und schob sich Kuchen in den Mund. »Viel Arbeit. Und du?«
    »Ich schreibe fürs Theater«, sagte mein Bruder und nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »Ich habe gerade deinen Russen übersetzt.«
    »Meinen Russen?«, fragte mein Vater kauend. »Was heißt das?«
    »Gorki«, mein Bruder lehnte sich zurück. »Weißt du nicht mehr? Du hast mir Maxim Gorki empfohlen, als ich in der Kadettenschule war.«
    »Ja natürlich«, sagte mein Vater, und die Spannung schien langsam von ihm zu abzufallen. »Welches Stück?«
    »Nachtasyl«, sagte mein Bruder.
    »Ein ganz hervorragendes Stück«, sagte mein

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