Ab jetzt ist Ruhe
warte.« Ich hörte, wie er durch sein Zimmer ging, sich etwas in ein Glas goss und mit sich selber sprach, während er offenbar etwas suchte. Er kam wieder ans Telefon und las mir ein Gedicht vor, dann ging er wieder weg und legte eine Schallplatte auf. »Miles Davis«, sagte er, als er wieder am Telefon war. »Ich werde dir eine Platte von Miles Davis geben. Es gibt keine schönere Musik und keine einsamere.« Er redete weiter und erzählte über seine Liebe. »Ich habe etwas getan, was ich noch nie getan habe. Ich habe ihr vom Fenster aus nachgeschaut. Sie ist in eine andere Richtung gegangen. Ich traue ihr nicht. Was soll ich machen? Ich weiß, es ist idiotisch. Ich weiß, ich mache sie kaputt. Ich weiß, sie hat keine Chance. Ich traue ihr nicht. Ich verlange von ihr, dass sie mir zuhört.«
Alle müssen dir immer zuhören, dachte ich, hatte aber nicht den Mut, es ihm zu sagen. Also hörte ich weiter zu. Er redete und trank und las etwas vor und spielte seine Musik und ging durch sein Zimmer und redete. Zwei Stunden lang.
»Ich muss jetzt schlafen«, sagte ich endlich.
»Ja.« Er legte den Hörer auf.
Ich ging ins Bett, stand zwei Stunden später wieder auf und ging zur Arbeit. Als ich wiederkam, trugen Möbelpacker die Sachen meiner dicken Nachbarin hinunter. »Die ist letzte Woche gestorben«, sagte einer, als ich fragte. Na endlich, dachte ich und schämte mich für den Gedanken. Dann rief ich meinen Vater an. Ich entschuldigte mich, dass ich mich nicht gemeldet hatte, und er fragte mich, auf wessen Seite ich eigentlich stünde. Ich antwortete, dass ich auf keiner Seite stünde, aber dass ich meinen Bruder verstehen könne.
»Er hat dir einen Brief geschrieben.«
»Was für einen Brief?«
»Es ist ein guter Brief. Er hat dich lieb.«
Mein Vater schwieg.
»Ich ihn auch«, sagte er nach einer Weile. »Aber er macht es einem nicht leicht.«
»Du ihm aber auch nicht.«
»Ja, ich weiß.«
Als ich ihn am Wochenende besuchte, erzählte mir mein Vater, dass mein ältester Bruder ihn angerufen habe. »Mitten in der Nacht«, sagte er. »Nimmt er etwa Drogen?«
»Bestimmt nicht«, log ich. Ich wusste von meinem jüngsten Bruder, dass mein großer Bruder kokste und dass dies der Grund für die stundenlangen nächtlichen Monologe am Telefon war. Mein Vater machte sich Sorgen, doch ich wollte mit ihm nicht darüber reden. Also wechselte ich schnell das Thema und erzählte ihm irgendetwas Belangloses aus meinem Leben. Er schien nicht unglücklich darüber zu sein. Wir verstanden uns wieder.
Alles war gut, bis es nicht mehr gut war. Ich spürte, wie ich mich langsam von Toni entfernte. Es gab keinen Grund dafür, und trotzdem passierte es. Einfach so. Wie immer. Ich war ein paar Monate im schönen Fieber, dann verblasste das Gefühl, und es trat nichts an die Stelle dessen, was ich für Liebe gehalten hatte. Ich wurde launischer, sarkastischer, einsilbiger und lustloser. Ich sah mir dabei zu und konnte nichts dagegen tun. Toni auch nicht.
»Du gibst dir keine Mühe«, sagte mein Freund. »Liebe ist auch Arbeit.«
»Ich will aber nicht, dass Liebe Mühe macht und Arbeit ist«, sagte ich. Toni holte seine Zahnbürste aus dem Bad und ging. Doch ich blieb nicht lang allein, meine gehasste Freundin Bulimie kehrte zurück und versprach mir, die Leere zu füllen. Ich gab ihr Nahrung und spie sie wieder aus, ich schrieb dunkle Gedanken in ein Heft und hörte traurige Musik, ich hielt mich für charakterlos und sah nicht mehr in den Spiegel.
Auch draußen in der Welt gefiel es mir nicht mehr. Die Arbeit im Verlag ödete mich an, und in der Band begann es zu kriseln, weil wir fast jedes Wochenende unterwegs waren und seit Ewigkeiten das gleiche Programm abspulten. Wir gingen uns inzwischen so auf die Nerven, dass wir beschlossen, nur noch die bereits zugesagten Konzerte zu spielen und dann erst mal Pause zu machen. Doch ausgerechnet unser letzter Auftritt bei einem Festival im Süden des Landes war so gut wie lange nicht mehr. Es schien, als wäre unserer Musik ein Stein vom Herzen gefallen, weil wir sie bald in Ruhe ließen. Die Songs flossen, wir verspielten uns nicht ein einziges Mal, und selbst meine Liebesballade sang ich so, als meinte ich sie ernst. Die Leute waren begeistert und forderten immer wieder Zugaben. Wir verbeugten uns und waren glücklich.
»Vielleicht sollten wir doch weitermachen«, sagte der Gitarrist mit der großen Nase, als wir wieder in der Garderobe saßen. »Blödsinn.« Der
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