Abaddons Tor: Roman (German Edition)
der inneren und äußeren Planeten Kisten ab, ohne sich große Gedanken über die Arbeiter neben ihnen zu machen. Anna konnte nicht anders, als sich trotz der jüngsten Katastrophen darüber zu freuen. Vielleicht war eine echte Tragödie nötig gewesen, um sie alle zusammenzuschweißen. Es schien zu gelingen, und daraus schöpfte sie Hoffnung.
Jetzt mussten sie nur noch herausfinden, wie sie ohne Blut und Schreie zurechtkamen.
»Man hat Ihre Arbeit kritisiert und vorgebracht, Sie befürworteten Gewalt«, sagte Monica Stuart.
Der gepeelte Mann nickte.
»Früher habe ich diesen Vorwurf zurückgewiesen, inzwischen bin ich aber zu der Schlussfolgerung gelangt, dass er möglicherweise nicht ganz unzutreffend ist. Wenn wir heimkehren, wird es sicherlich einige Neuanpassungen geben.«
»Wegen des Rings?«
»Und wegen der langsamen Zone und der Dinge, die dort geschehen sind.«
»Würden Sie denn anderen politisch interessierten Künstlern raten, ebenfalls hier herauszukommen?«
»Unbedingt.«
Chris, ihr junger Offizier, hatte sie gefragt, wie sie dazu stünde, gemischte Andachten auf der Behemoth abzuhalten. Zuerst hatte sie angenommen, er meinte ökumenische Gottesdienste, doch wie sich herausstellte, dachte er an eine gemeinsame Gruppe von Erdern, Marsianern und Gürtlern. Gemischt, als unterteilte Gott die Menschen nach der Schwerkraft, unter der sie aufgewachsen waren. Anna war dagegen der Ansicht, so etwas wie eine gemischte Gruppe von Kirchgängern könne es grundsätzlich nicht geben. Ganz egal, wie sie aussahen oder wie sie Gott nannten, wenn mehrere Menschen gemeinsam den Herrn anriefen, dann waren sie eins. Selbst wenn es keinen oder einen Gott oder sogar viele Götter gab, es spielte keine Rolle. Glaube, Hoffnung, Liebe, hatte Paulus geschrieben, aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Glaube und Hoffnung waren Anna sehr wichtig, doch nun konnte sie die Worte des Apostels auf eine ganz neue Weise betrachten. Die Liebe brauchte nichts anderes. Sie brauchte weder einen gemeinsamen Glauben noch eine gemeinsame Identität. Anna dachte an ihr Kind und empfand eine starke Sehnsucht und Einsamkeit. Beinahe spürte sie Nami in ihren Armen, beinahe roch sie den berauschenden Duft des neugeborenen Kindes. Die Uganderin Nono und die Russin Anna waren verschmolzen und hatten Nami erschaffen. Keine Mischung, nein, so grob war es nicht. Das Kind war mehr als nur die Summe ihrer Teile und ihrer Herkünfte. Ein ganz neues Wesen, ein einzigartiges Individuum.
Also keine gemischte Gruppe, sondern einfach nur eine Gruppe. Etwas Neues, perfekt und einzigartig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Gott es irgendwie anders sah, und die erste Predigt hatte sie im Kopf schon so gut wie vorbereitet. Als sie etwa die Hälfte des Entwurfs für die Ansprache zum Thema »Vor Gottes Angesicht gibt es keine gemischten Gruppen« im Terminal niedergeschrieben hatte, traf Bull mit heulenden mechanischen Beinen ein, die bei jedem Schritt polterten. Anna fand, dies lasse Bull noch gesetzter erscheinen, als er es ohnehin schon war. Die Langsamkeit, mit der er sich bewegte, weil es die Mechanik erforderte, konnte man leicht mit Förmlichkeit und Stattlichkeit verwechseln. Das elektrische Summen der Maschine und das laute Poltern der Schritte kündigten sein Kommen an wie ein Herold.
Anna stellte sich vor, wie gereizt Bull wäre, wenn sie es ihm erzählte, und kicherte ein wenig in sich hinein.
Bull war gerade dabei, mit einem Untergebenen zu reden, und bemerkte sie nicht einmal. »Es ist mir egal, was Sie davon halten, Serge. Wir haben vereinbart, dass kein bewaffnetes Militärpersonal auf das Schiff kommt. Auch ohne die eingebauten Waffen sind die Anzüge gefährliche Waffen. Konfiszieren Sie die Ausrüstung oder werfen Sie die Leute vom Schiff.«
»Si, jefe«, erwiderte der andere Mann. »Aber wie mach ich das, sa sa? Mit dem Büchsenöffner?«
»Fragen Sie höflich. Wenn wir sie jetzt nicht dazu bringen, etwas zu tun, während wir alle Freunde sind, müssen wir uns doch fragen, was passiert, wenn sie beschließen, dass wir keine Freunde mehr sind. Wenn vier Marinesoldaten in Kampfrüstungen beschließen, das Schiff zu übernehmen, dann gelingt es ihnen auch. Also nehmen wir ihnen die Rüstungen weg, ehe sie es versuchen. Ich will die Sachen nicht mal in der Walze haben. Verstauen Sie die Geräte in der Waffenkammer der Brücke.«
Serge war ausgesprochen unglücklich über diesen Auftrag. »Bekomme ich vielleicht ein wenig
Weitere Kostenlose Bücher