Abaddons Tor: Roman (German Edition)
in Falten. Zum ersten Mal, seit sie ohnmächtig geworden war, nachdem sie versucht hatte, den Spind auf der Rosinante aufzubrechen, erinnerte sie sich daran, wie sich Wut anfühlte. Wie überwältigend sie war.
»Warum sollte man mir vergeben? Ich habe es getan. Das ist alles, was zählt.«
»Aber wenn …«
»Was für eine Art Gerechtigkeit wäre das? ›Oh, du hast Ren umgebracht, aber du bereust es wirklich, also ist jetzt alles wieder gut.‹ Zum Teufel damit. Wenn Ihr Gott so wirkt, dann soll auch er zum Teufel gehen.«
Es klapperte an der Tür des Kühlhauses. Clarissa blickte hinüber. Es gefiel ihr nicht, dass es in diesem Moment geschah. Dann wurde ihr bewusst, dass man draußen vermutlich ihre laute Stimme gehört hatte. Die Leute kamen, um die Priesterin zu retten. Sie ballte die Hände zu Fäusten und betrachtete sie. Man würde sie wieder in die Zelle sperren. Der Druck im Bauch und die Enge in der Kehle bewiesen, wie sehr sie dies verabscheute.
»Schon gut«, sagte Anna, als der Wächter den Kühlraum betrat und die Waffe auf Clarissa richtete. »Es ist nichts passiert.«
»Ja, schon klar.« Der Wächter sah Clarissa scharf an und schien ein wenig ängstlich. »Die Zeit ist um, die Sitzung ist vorbei.«
Mit einer gewissen Frustration sah Anna Clarissa an. Sie war nicht mit der Frau, sondern mit der Situation unzufrieden, weil sie nicht alles so geregelt hatte, wie sie es wollte. Das konnte Clarissa sogar nachempfinden.
»Ich möchte noch einmal mit Ihnen reden, wenn Sie nichts dagegen haben«, sagte Anna.
»Sie wissen ja, wo ich wohne«, antwortete Clarissa achselzuckend. »Ich gehe nicht oft aus.«
35 Anna
Bull war nicht in der Wache, als sie dort eintraf. Eine muskulöse junge Frau mit einer großen Waffe an der Hüfte zuckte mit den Achseln, als Anna fragte, ob sie warten dürfe. Dann ignorierte die Frau sie und arbeitete weiter. Ein Wandbildschirm war auf den Feed von Radio Freie Langsame Zone eingestellt, wo ein junger Erder sich zu Monica Stuart vorbeugte und sehr ernst irgendetwas erzählte. Seine Haut war hell rosafarben, doch es schien keine natürliche Hautfarbe zu sein. Für Anna sah es aus, als hätte er ein kräftiges Peeling bekommen.
»An meiner Absicht, die Autonomie für das Gemeinsame Interessengebiet Brasilien zu erlangen, hat sich nichts geändert«, erklärte er. »Wenn überhaupt, dann hat mein Ansatz eine breitere Basis bekommen.«
»Inwiefern eine breitere Basis?« Monica schien ehrlich interessiert. Das war ihre besondere Begabung. Der gepeelte Mann tippte mit den Fingerspitzen auf die Lehne des Sessels. Anna war sicher, ihm auf der Thomas Prince schon einmal begegnet zu sein, konnte sich aber beim besten Willen nicht an den Namen erinnern. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, er könne ein Maler sein. Auf jeden Fall irgendeine Art Künstler.
»Seit wir hier sind, haben wir uns alle verändert«, sagte er. »Wir wurden verändert, weil wir diese Prüfungen erlebt haben. Wenn wir zurückkehren, wird keiner mehr so sein wie zuvor. Die Tragödie, der Verlust und das Gefühl für das Wunderbare verändern unsere Einstellung zu dem, was wir menschlich nennen. Verstehen Sie, was ich meine?«
Seltsamerweise glaubte Anna, ihn zu verstehen.
Als Priesterin bekam sie tiefe Einblicke in das Leben anderer Menschen. Anna hatte Paare ihrer Gemeinde beraten, Trauungen durchgeführt, die Kinder getauft und in einem sehr traurigen Fall ein Jahr später die Andacht zur Beerdigung des Kindes abgehalten. Die Gemeindemitglieder bezogen sie in die wichtigsten Ereignisse ein. Daran war sie gewöhnt, und meist genoss sie die tiefe Verbundenheit mit den Menschen, die dies mit sich brachte. Wenn sie das Leben eines Menschen verfolgte, dann war es, als steckte sie anhand der Ereignisse, die den Betreffenden veränderten, einen Kurs auf einer Karte ab, auf der die jeweils abgeschlossene Etappe einen ganz anderen Menschen beschrieb. Der Flug durch den Ring und die daran anschließenden Tragödien hatten bei ihnen allen Spuren hinterlassen.
Der Exodus der anderen Einheiten zur Behemoth war gerade im Gange. Auf der gekrümmten inneren Wohnfläche der Walze blühten die Zeltstädte auf wie Wildblumen auf einem ebenen, aus Keramik und Stahl konstruierten Feld. Große schlaksige Gürtler halfen, verletzte Erder aus Krankentransportern zu laden, setzten Infusionen und nahmen medizinisches Gerät in Betrieb, schüttelten Kissen auf und tupften Gesichter ab. In gemischten Gruppen luden Bewohner
Weitere Kostenlose Bücher