Abaddons Tor: Roman (German Edition)
Möglichkeit der Erlösung? An den Wert des menschlichen Lebens, ganz egal, wie verdorben und verkommen es ist?«
»Verdammt auch, nein«, antwortete Bull. »Ich halte es für möglich, dass jemand viel zu weit in den roten Bereich vorstößt, um jemals wieder umzukehren.«
»Das klingt, als spräche da die Stimme der Erfahrung. Wie weit sind Sie vorgedrungen?«
»Weit genug, um zu wissen, was zu weit geht.«
»Fühlen Sie sich wohl damit, der Richter darüber zu sein, wo diese Grenzlinie verläuft?«
Bull regte sich im Gestell seines Gehapparats, verlagerte das Gesicht in den Gurten und blickte sehnsüchtig zu seinem Bürostuhl, den er nicht mehr benutzen konnte. Anna hatte Mitgefühl, weil er im ungünstigsten Moment überhaupt verletzt worden war. Er versuchte, seine winzige Welt in Ordnung zu halten, und verbrannte ohne Rücksicht auf sich selbst seine letzten Kraftreserven. Die geröteten Augen und die gelbliche Haut kamen ihr vor wie ein Ladeanzeiger, der davor warnte, dass die Batterie so gut wie erschöpft war. Anna hatte Schuldgefühle, weil sie seine Bürde noch vergrößerte.
»Ich will das Mädchen nicht töten.« Er trank einen Schluck grässlichen Kaffee. »Genau genommen ist sie mir ziemlich egal, solange sie eingesperrt ist und mein Schiff nicht gefährdet. Sie sollten besser mit Holden reden. Er ist derjenige, der die Meute mit den Fackeln und Mistgabeln loslassen wird.«
»Aber die Marsianer …«
»Sie haben vor zwanzig Stunden kapituliert.«
Anna blinzelte verdutzt.
»Das wollten sie schon seit Tagen«, erklärte Bull. »Wir mussten ihnen nur noch einen Weg bieten, das Gesicht zu wahren.«
»Inwiefern?«
»Sie können jetzt eine Geschichte erzählen, in der sie nicht wie Memmen dastehen. Mehr brauchten sie nicht. Wenn wir nichts gefunden hätten, dann wären sie auf ihren Posten geblieben, bis sie alle gestorben wären. Nichts hat mehr Menschen getötet als die Angst, wie ein Waschlappen dazustehen.«
»Also kommt Holden hierher?«
»Er ist bereits mit vier Marinesoldaten in Kampfrüstung unterwegs, was mir auch schon wieder Kopfschmerzen bereitet. Aber wie wäre es damit? Ich rede nicht über das Mädchen, solange ich nicht muss. Was Holden macht, geht mich nichts an.«
»Gut, dann wende ich mich an ihn, sobald er da ist«, sagte Anna.
»Viel Glück«, antwortete Bull.
36 Holden
Als die Marsianer ihn holten – es waren zwei Männer und zwei Frauen, alle uniformiert und bewaffnet –, waren Holdens von der Isolationshaft benommene Gedanken in ein Dutzend Richtungen gleichzeitig galoppiert. Kapitän Jakande hatte einen freien Platz in der medizinischen Abteilung geschaffen und wollte ihn wegen der Ereignisse auf der Station in die Mangel nehmen. Sie wollten ihn durch die Luftschleuse hinauswerfen. Sie hatten erfahren, dass Naomi tot war. Sie hatten erfahren, dass sie noch lebte. Jede Nervenzelle vom Gehirn bis zu den Zehenspitzen war schmerzhaft aktiv. Beinahe hätte er sich von der Zellenwand abgestoßen und wäre in den schmalen Korridor gestürmt.
»Der Gefangene soll sich identifizieren«, verlangte einer der Männer.
»James Holden. Ich meine, so viele Gefangene habt ihr doch gar nicht, oder? Mir scheint, ich sitze hier seit einem Jahrzehnt fest und habe dennoch niemanden gefunden, mit dem ich reden kann. Ich bin ziemlich sicher, dass außer mir noch nicht mal ein Sandfloh die Zelle bewohnt.«
Er biss sich auf die Lippen, um seinen Redefluss zu unterbrechen. Viel zu lange war er allein gewesen und hatte Angst gehabt. Er hatte nicht begriffen, wie sehr es ihm zusetzte. Selbst wenn er bei der Ankunft auf der Hammurabi noch nicht geisteskrank war, er würde es bald sein, wenn sich nicht schnell etwas änderte.
»Der Gefangene hat sich korrekt als James Holden identifiziert«, verkündete der Mann. »Kommen Sie mit.«
Der Gang vor der Zelle war so schmal, dass zwei Wächter vor ihm und zwei hinter ihm so gut wie Mauern waren. Dank der niedrigen marsianischen Schwerkraft ähnelten sie eher den Gürtlern als ihm, und alle vier überragten ihn und gingen leicht gebeugt. Noch nie im Leben hatte Holden sich so darüber gefreut, durch einen winzigen, überfüllten Gang zu laufen. Doch auch diese Erleichterung wich schnell der Furcht. Die Wächter stießen ihn nicht, sondern setzten sich mit einer Autorität in Bewegung, die ihm verdeutlichte, dass er ihrem Beispiel umgehend folgen sollte. Die Luke war nur fünf Meter entfernt, doch nach der langen Zeit in der Zelle kam ihm
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