Abaddons Tor: Roman (German Edition)
hatte. Naomi lag auf einer fahrbaren Trage, ein Arm steckte in einer aufblasbaren Schiene. Ihr Gesicht war mit halb verheilten Prellungen übersät. Tränen quollen ihm in die Augen, und er konnte einen Moment lang nicht sprechen. Eine Mordswut loderte in ihm empor. Es war keine Katastrophe und kein Unfall gewesen. Irgendjemand hatte ihr dies angetan.
Als sie ihn sah, lächelte sie sanft und belustigt.
»Hallo«, sagte sie. Er stürzte zu ihr, hielt ihre unversehrte Hand. In seiner Kehle saß ein Kloß, er konnte nicht sprechen. Auch Naomi standen Tränen in den Augen, doch sie empfand anscheinend keinen Zorn. Er staunte selbst, wie dankbar er dafür war.
»Anna«, sagte Naomi. Sie war erfreut über die Begegnung, was ein guter Anfang war. »Jim, kennst du Anna? Sie hat mich vor der Verrückten mit dem Abbruchmech gerettet.«
»Sie hat wohl auch uns gerettet«, ergänzte Amos. »Also, vielen Dank dafür, Rotkäppchen. Ich glaube, ich bin Ihnen was schuldig.«
Holden brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er Anna gemeint hatte. Auch Anna schien überrascht.
»Ich freue mich, dass ich helfen konnte. Leider war ich durch Schmerzmittel sehr benommen. Es hätte leicht schiefgehen können.«
»Nehmen Sie’s, wie’s kommt«, meinte Alex. »Wenn Sie begriffen haben, wozu Amos gut ist, können Sie das Angebot ja einlösen.«
»Idiot.« Amos warf mit einem Kissen nach ihm.
»Danke«, sagte Holden. »Wenn Sie meine Crew gerettet haben, dann stehe ich tief in Ihrer Schuld.«
»Ich freue mich, wenn ich helfen konnte«, wiederholte sie. Dann wandte sie sich an Naomi. »Sie sehen besser aus als bei unserer letzten Begegnung.«
»So langsam wird es wieder«, antwortete Naomi, schnitt eine Grimasse und bewegte den geschienten Arm. »Mal sehen, wie beweglich ich bin, wenn die Knochen verheilt sind.«
Anna nickte lächelnd. Dann wurde sie ernst.
»Jim? Es tut mir leid, aber ich muss wirklich mit Ihnen reden. Könnten wir uns an einen Ort zurückziehen, wo wir nicht gestört werden?«
»Nein. Ich habe befürchtet, diese Menschen nie wiederzusehen. Ich bleibe hier. Wenn Sie mit mir reden wollen, dann tun Sie es hier.«
Der Blick der Frau wanderte zwischen den Crewmitgliedern hin und her. Ihre Miene hätte man als hoffnungsvoll oder als Ausdruck stiller Resignation deuten können.
»Ich brauche etwas«, sagte sie schließlich.
»Was immer Sie wollen.« Amos richtete sich auf seinem Bett auf. Holden erkannte sofort, dass Anna keine Ahnung hatte, wie ernst Amos sein Angebot meinte. Hoffentlich suchte die Priesterin keinen Auftragskiller.
»Wenn es uns möglich ist, dann sollen Sie es bekommen«, ergänzte Alex. Amos nickte eifrig.
Anna wandte sich an Holden. »Ich habe mit dem Leiter des Sicherheitsdienstes gesprochen. Er ist einverstanden, Clarissas Geständnis nicht öffentlich zu machen. Sie hat ja zugegeben, was sie getan hat. Auch Sie müssen schweigen.«
Holden runzelte die Stirn, ohne zu antworten. »Warum?«, wollte Naomi wissen.
»Nun ja«, erklärte Anna. »Dies ist James Holden. Er ist bekannt dafür, Dinge zu veröffentlichen …«
»Ich meine, warum wollen Sie nicht, dass andere Leute es erfahren?«
Anna nickte. »Wenn es herauskommt, wird man sie angesichts unserer jetzigen Situation vermutlich hinrichten.«
»Gut«, sagte Holden.
»Sie hat es verdient«, fügte Amos hinzu.
Anna hob beschwichtigend beide Hände und nickte. Das bedeutete nicht, dass sie zustimmte, sondern nur, dass sie es gehört und verstanden hatte.
»Sie müssen ihr vergeben, und wenn es keinen anderen Grund gibt, dann tun Sie es, weil Sie mir einen Gefallen schuldig sind. Sie sagten, ich könne alles bekommen. Dies ist das, was ich will.«
In dem darauf folgenden Schweigen atmete Amos gedehnt aus. Alex zog die Augenbrauen hoch.
»Warum?«, fragte Naomi noch einmal mit ruhiger Stimme.
Anna presste die Lippen zusammen. »Sie ist nicht böse. Ich glaube, Clarissa hat aus Liebe gehandelt. Es ist krank, aber es ist Liebe. Und wenn sie tot ist, gibt es für sie keine Hoffnung mehr. Ich brauche die Hoffnung.«
Holden sah, wie die Worte auf Naomi wirkten. In ihre Augen kam auf einmal ein Schmerz, den er nicht verstand. Sie zog die Lippen zurück und fletschte die Zähne. Ihr Flüstern klang heiser und war so leise, dass nur er es hören konnte. Er drückte ihre Hand und spürte die Knochen ihrer Finger.
»Gut«, sagte Naomi. »Wir halten den Mund.«
Auf einmal wurde er wütend, und das Sprechen fiel ihm wieder ganz
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