Abaddons Tor: Roman (German Edition)
wie beeindruckt sie gewesen war. Jetzt hätte sie beinahe laut gelacht.
Sie schritt in ihrer winzigen Welt umher, machte Liegestütze und Sprünge und all die lächerlichen Übungen, die in der geringen Schwerkraft möglich waren. Außerdem wartete sie auf die Strafe oder auf das Ende der Welt. Wenn sie schlief, war Ren zur Stelle, also mied sie den Schlaf.
Langsam und mit zunehmendem Entsetzen verstand sie die Veränderung. Sie kam wieder zu sich. Sie wurde wach. Nach dem Fehlschlag auf der Rosinante hatte sie eine Art Frieden gefunden, sie war von allem losgelöst gewesen. Schon vorher hatte sie sich wie in einem Traum bewegt. Sie konnte nicht mehr sagen, ob es an dem Tag begonnen hatte, als sie Ren getötet hatte, oder seit sie sich als Melba Koh ausgab, oder ob es sogar noch früher seinen Anfang genommen hatte. Als sie erfahren hatte, dass ihr Vater verhaftet worden war. Wann sie sich auch verloren hatte, jetzt kam sie wieder zu sich, und ihr war, als litte ihr ganzes Bewusstsein unter tausend Nadelstichen. Es war schlimmer als ein starker Schmerz, und es trieb sie zum Wahnsinn.
Je länger sie darüber nachdachte, desto klarer durchschaute sie auch die Spielchen, die diese rothaarige Priesterin mit ihr trieb. Die Priesterin und auf ihre Weise auch Tilly Fagan. Vielleicht hatte Anna gedacht, man müsse die Hoffnung auf Vergebung wie eine Möhre vor ihr baumeln lassen, um ihr ein Geständnis zu entlocken. Wenn das zutraf, dann war die Frau gleich in zweifacher Hinsicht naiv. Zuerst einmal, weil sie annahm, dass Clarissa sich nicht zu dem bekennen würde, was sie getan hatte, und zweitens, weil sie angenommen hatte, die Vergebung sei etwas, das Clarissa wollte oder annehmen würde.
Ich würde gern noch einmal mit Ihnen reden, hatte Anna gesagt, und es hatte so aufrichtig geklungen. So echt. Nur, dass sie nicht mehr gekommen war. Ein kleiner rationaler Teil in Clarissas Gehirn wusste, dass es eigentlich noch nicht so lange her war. Die Gefangenschaft in der Zelle veränderte das Zeitempfinden. Sie fühlte sich isoliert. Das war ja der Sinn einer Zelle. Trotzdem, Anna war nicht wieder hergekommen. Holden auch nicht. Oder Naomi, die Clarissa nicht ganz umgebracht hatte. Sie waren fertig mit ihr, und warum auch nicht? Clarissa hatte ihnen nichts mehr zu bieten, abgesehen vielleicht von einer Warnung, dass sich die Machtverhältnisse auf dem Schiff noch einmal ändern würden. Als ob das eine Rolle spielte. Die Frage, wer auf dem verdammten Sessel des Kapitäns saß, war völlig unbedeutend. Ungefähr so wichtig wie die Frage nach dem hübschesten Mädchen im Gefangenenlager.
Trotzdem, es war das einzige Programm, das lief, und sie sah zu.
Die Unterhaltungen in der anderen Zelle hatten einen neuen Tonfall angenommen. Es klang drängender. Noch bevor der gut gekleidete Mann zu ihr kam, wusste sie, dass sich ein kleines Drama abspielen würde. Er blieb vor ihrer Tür stehen und blickte in die Zelle. Mit dem weißen, perfekt frisierten Haar sah er alt aus. In den routiniert onkelhaft blickenden Augen lag eine Dunkelheit. Als er die Hände um die Gitterstäbe legte, sah es aus, als sei er der Gefangene.
»Ich nehme an, Sie erinnern sich nicht an mich.« Seine Stimme klang zugleich traurig und liebevoll.
»Vater Cortez«, antwortete sie. »Ich erinnere mich an Sie. Sie haben früher mit meinem Vater Golf gespielt.«
Er kicherte wehmütig und stellte sich anders hin, bis die Stirn dicht vor den Stäben lag.
»Das habe ich getan, aber das ist schon lange her. Sie waren damals höchstens … sieben Jahre alt?«
»Danach habe ich Sie in den Nachrichtenfeeds gesehen.«
»Ah«, machte er und blickte ins Leere. »Das ist wohl auch schon lange her. Ich habe gerade mit dem Kapitän gesprochen. Wie er sagte, versucht er, Sie zu überzeugen, sich uns anzuschließen, aber er hatte bisher nicht viel Erfolg.«
Zwei Wächter kamen herein und gingen an den Boxen vorbei. Beide zählten zu Ashfords Verbündeten. Cortez nahm ihre Anwesenheit überhaupt nicht zur Kenntnis.
»Nein, er hatte keinen Erfolg«, bestätigte sie. Dann fügte sie hinzu: »Er lügt oft.«
Cortez zog die Augenbrauen hoch.
»Er lügt?«
»Er sagte, er könne mir eine Amnestie verschaffen. Auf dem Rückweg könne er mich nach Ceres bringen und mich an die AAP überstellen. Nur, dass er das nicht tun kann.«
Cortez holte tief Luft und atmete wieder aus. »Nein. Nein, das kann er nicht. Darf ich ehrlich mit Ihnen sein?«
»Ich kann Sie ja sowieso nicht
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