Abaddons Tor: Roman (German Edition)
bedeckt war, wie es nach Apfelblüten duftete, wie der Zyklus von Verdunstung und Kondensation alles abkühlte. Oder wenn nicht, dann konnte man zumindest einen ewigen Sommernachmittag erleben.
Es war ein Traum. Der Traum anderer Menschen, inzwischen zum Scheitern verurteilt, aber trotz der Trümmer ein schöner Traum.
»Kapitän Holden? Kann ich mit Ihnen sprechen?«
Es war eine kleine Frau mit hellroten Haaren, die sie zu straffen Zöpfen geflochten hatte. Sie trug einen schlichten braunen Anzug, war in den besten Jahren und fühlte sich offenbar wohl in ihrer Haut. Er dachte sofort an seine Mütter.
»Ich bin Annushka Volovodov«, erklärte sie lächelnd. »Sie können mich Anna nennen, wenn Sie wollen.«
»Jim.« Er gab ihr die Hand. Inzwischen konnte er fast wieder normal atmen. Ohne irgendein Anzeichen von Angst schüttelte sie seine Hand. Anscheinend wusste sie noch nicht, dass er als der gefährlichste Mann des Sonnensystems galt. »Kommen Sie aus Osteuropa?«
»Russland«, bestätigte sie nickend. »Ich bin in Kimry geboren, habe aber den größten Teil meines Lebens in Moskau verbracht. Sie sind wohl Nordamerikaner?«
»Montana, ein Farmkollektiv.«
»Wie ich hörte, soll Montana sehr schön sein.«
»Die Bevölkerungsdichte ist angenehm. Es gibt dort immer noch mehr Kühe als Menschen.«
Anna nickte und zupfte an ihrem Anzug. Holden gewann den Eindruck, dass sie eigentlich noch etwas anderes sagen wollte und Schwierigkeiten hatte, es auszusprechen. »So war es auch in Kimry. Bei den Touristen ist es beliebt, weil es dort Seen gibt …«, begann Anna.
»Anna«, unterbrach Holden sie sanft. »Wollen Sie mir etwas sagen?«
»Allerdings«, bestätigte sie. »Ich möchte Sie bitten, niemandem zu erzählen, was Clarissa getan hat.«
Holden nickte.
»Na gut«, sagte er. »Aber wer ist Clarissa, und was hat sie getan?«
Die Frau legte den Kopf schief.
»Demnach hat man es Ihnen nicht gesagt?«
»Ich glaube, die Marsianer mochten mich nicht sehr«, erwiderte Holden. »Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
»Das ist wirklich komisch. Direkt nach der Katastrophe hat ein Mädchen, das sich Melba nannte, Ihr Schiff angegriffen«, berichtete Anna. »Es ist eine lange Geschichte. Jedenfalls bin ich ihr gefolgt und habe zu helfen versucht. Ihre XO Naomi wurde bei dem Angriff schwer verletzt.«
Holden hatte das Gefühl, das Universum zöge sich schlagartig zusammen. Naomi war verletzt worden, während er sich mit Miller auf der Station herumgetrieben hatte. Seine Hände zitterten.
»Wo ist sie?«, fragte er und war selbst nicht sicher, ob er Naomi oder die Frau meinte, die seine Geliebte angegriffen hatte.
»Naomi ist hier. Sie haben sie zur Behemoth transportiert«, erklärte Anna. »Sie wird jetzt in der Krankenstation behandelt, und die Ärzte sind sicher, dass sie sich völlig erholt. Auch die übrigen Crewmitglieder sind hier. Sie wurden schon früher verletzt, als die Höchstgeschwindigkeit herabgesetzt wurde.«
»Demnach haben sie überlebt?«
»Ja«, bestätigte Anna, »sie haben überlebt.«
Die Mischung aus Erleichterung, Kummer, Zorn und Schuldgefühlen ließen ihn schwindeln, bis das Schiff ein wenig unter ihm zu schwanken schien. Anna legte ihm hilfsbereit eine Hand auf den Arm.
»Wer ist diese Melba, und warum hat sie meine Crew angegriffen?«
»Das ist nicht ihr richtiger Name. Meine Freundin kennt sie und ihre Familie. Anscheinend sind Sie eine Art fixe Idee für das Mädchen. In Wirklichkeit heißt sie Clarissa Mao.«
Mao.
Die geheimnisvolle, mächtige Julie. Die Julie, die das Protomolekül genau wie den gespenstischen Miller wiedererschaffen hatte. Die Julie, die den Tontechniker Cohen angeheuert hatte, um ihr Schiff zu hacken. Die Julie, die Cohen später modelliert hatte und die nicht ganz richtig ausgesehen hatte. Die Julie, die während des vergangenen Jahres sein Leben manipuliert hatte, damit er schließlich durch das Tor flog und zur Station kam.
Es war überhaupt nicht Julie.
»Es geht ihr nicht gut«, fuhr Anna fort. »Aber ich glaube, man kann zu ihr durchdringen, falls wir genug Zeit haben. Aber wenn man sie hinrichtet …«
»Wo ist Naomi? Wissen Sie, wo Naomi ist?«
»Das weiß ich«, antwortete Anna. Dann: »Es tut mir leid, ich war vielleicht zu sehr mit meinen eigenen Problemen beschäftigt. Darf ich Sie hinbringen?«
»Bitte«, willigte Holden ein.
Fünfzehn Minuten später betrat er in der Krankenstation das Zimmer, das seine kleine Familie für sich
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