Abaddons Tor: Roman (German Edition)
einer unerwarteten Krankheit. »Er war ein sehr kluger Mann. Brillant, würden manche sogar sagen, und auf seine Weise sehr verschlossen.«
Er hat versucht, das Protomolekül in eine Waffe zu verwandeln und dem Höchstbietenden zu verkaufen, dachte Clarissa. Der Gedanke hätte wehtun sollen, schmerzte aber keineswegs. Es war einfach eine Tatsache. Eisenatome entstanden in Sternen, ein Daimo-Koch-Sender verbrauchte weniger Strom als die Standardmodelle, und ihr Vater hatte versucht, das Protomolekül militärisch zu nutzen. Er hatte nicht gewusst, was es war. Niemand hatte es gewusst. Das hatte die Verantwortlichen nicht davon abgehalten, damit zu spielen, um herauszufinden, wozu es imstande war. Auf einmal dachte sie an ein Video, das sie einmal gesehen hatte. Ein betrunkener Soldat hatte einem Schimpansen sein Sturmgewehr gegeben. Was danach geschehen war, konnte man als lustig oder tragisch betrachten, je nach Stimmung. Ihr Vater hatte sich nicht sehr von dem Schimpansen unterschieden. Nur, dass er in einem größeren Maßstab gehandelt hatte.
»Es tut mir leid, dass ich keine Gelegenheit hatte, ihn näher kennenzulernen«, sagte Cortez.
Ashford und sieben seiner Männer waren bei ihnen im Aufzug. Der Kapitän stand ganz vorn, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die meisten Soldaten waren Gürtler wie er. Hoch aufgeschossene Körper, große Köpfe. Auch Ren hatte so ausgesehen. Als gehörten sie alle derselben Familie an. Ashfords Soldaten hatten Feuerwaffen und schusssichere Westen. Sie nicht. Die Krieger warfen ihr immer wieder unwirsche Blicke zu, denn sie hielten sie immer noch für Melba. Sie war die Terroristin und Mörderin mit den Kampfmodifikationen. Dass sie wie eine normale junge Frau aussah, verstärkte nur das Gefühl, dass sie unheimlich war. Deshalb hatte Ashford sie unbedingt haben wollen. Sie war Zierrat. Eine Trophäe, die bewies, wie stark er war, und die sein vorheriges Versagen, als er das Schiff verloren hatte, vergessen ließ.
Sie wünschte, einer der Männer würde sie anlächeln. Je mehr die anderen sich verhielten, als sei sie Melba, desto stärker wurde das Gefühl, diese andere Version ihrer selbst gewänne wieder die Oberhand und breitete sich aus wie Tinte, die Löschpapier färbte.
»Ihr Bruder Petyr ist einmal ins UN-Gebäude gekommen, als ich dort zu Besuch war.«
»Das müsste eigentlich Michael gewesen sein«, widersprach sie. »Petyr hasst die UN.«
»Wirklich?« Cortez lachte freundlich. »Dann habe ich mich wohl geirrt.«
Der Aufzug erreichte die Achse der Walze und bremste behutsam ab, damit sie sich alle an den Handgriffen festhalten konnten, ohne gegen die Decke zu prallen. Hinter ihnen waren die riesigen Leitungen und Transformatoren zu sehen, die die lange dünne Sonne in der Walze versorgten. Ehe sie zum Ring herausgekommen war, hatte sie noch nie ernsthaft über Ladungsausgleich und Umweltkontrollen nachgedacht. Das waren Dinge gewesen, mit denen sich andere Menschen beschäftigen mussten. Geringere Menschen. Jetzt, nachdem sie so viel gelernt hatte, fand sie die Behemoth Ehrfurcht gebietend. Sie wünschte, die anderen hätten es sehen können. Soledad, Bob und Stanni. Und Ren.
Die Türen glitten auf, und die Gürtler stürzten sich mit der Anmut von Menschen, die ihre Kindheit bei niedriger Schwerkraft oder in der Schwerelosigkeit verbracht hatten, in den Transitbereich. Sie und Cortez blamierten sich nicht, doch mit der selbstverständlichen Anmut eines schwebenden Gürtlers konnten sie sich niemals messen.
Die Kommandodecks waren schön. Das weiche, indirekte Licht warf keine Schatten. Melba flog hinter Ashford und den Gürtlern her und schwamm durch die Luft wie ein Delfin durch das Meer.
Auch das Kommandozentrum selbst war eine Augenweide. Ein langer, rautenförmiger Raum mit Steuerpulten auf Keramiktischen. An einem Ende der Raute führte eine Tür in das Büro des Kapitäns, am anderen Ende lag die Sicherheitsstation. Die kardanisch aufgehängten Druckliegen wirkten nicht so sehr wie funktionelle Notwendigkeiten, sondern eher wie natürliche Auswüchse des Schiffs. Wie Orchideen. Nicht einmal das halbe Dutzend Wartungsklappen, die offen standen, weil die Reparaturen nach dem abrupten Stopp noch nicht abgeschlossen waren, konnten diesen Eindruck zerstören. Selbst die Eingeweide des Kommandozentrums waren auf ihre Weise schön. Clarissa verspürte auf einmal den Wunsch, hinüberzugehen und hineinzublicken, um zu erfahren, ob sie die Schaltungen
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