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Abaddons Tor: Roman (German Edition)

Abaddons Tor: Roman (German Edition)

Titel: Abaddons Tor: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James S. A. Corey
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lag ein Summen wie bei einem Betrunkenen, der kurz davor stand, eine Schlägerei vom Zaun zu brechen. Clarissa legte Cortez eine Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf.
    Der ältere Mann runzelte die Stirn, fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die weißen Haare und setzte eine professionelle mitfühlende Miene auf.
    »Ich verstehe durchaus die Notwendigkeit, für Disziplin zu sorgen, Kapitän«, erwiderte Cortez. »Dazu kann gegebenenfalls sogar der Einsatz von Gewalt notwendig sein, aber …«
    »Zwingen Sie mich nicht, Sie zurück in die Walze zu schicken«, drohte Ashford. Cortez schloss den Mund und neigte den Kopf, als sei es nichts Neues für ihn, auf diese Weise gedemütigt zu werden. Obwohl sie wusste, dass dem nicht so war, empfand Clarissa großes Mitgefühl für ihn. Er hatte viele Tote gesehen und viele Menschen sterben sehen. Mit anzusehen, wie jemand getötet wurde, war etwas ganz anderes. Eine gezielte Hinrichtung war für ihn etwas Neues. In gewisser Weise hatte sie ihm etwas voraus.
    »Kommen Sie mit«, drängte sie. Cortez blinzelte. Ihm standen Tränen in den Augen, rollten mehr oder weniger wild auf dem Augapfel umher und konnten in der Schwerelosigkeit nicht herabfallen. »Der Lokus ist da drüben, ich bringe Sie hin.«
    »Danke«, sagte er.
    Zwei Wächter umwickelten die tote Ingenieurin mit Klebeband. Die Kugel war direkt über dem rechten Auge eingeschlagen, wo das Blut hervorgequollen war und sich in einer Halbkugel gesammelt hatte, die bebte, aber nicht weiter wuchs. Die Frau blutete nicht mehr. Sie war eine Feindin, dachte Clarissa, war sich ihrer Sache aber keineswegs sicher, sondern probierte den Gedanken aus wie eine neue Weste. Sie war eine Feindin, deshalb hat sie den Tod verdient, auch wenn sie rote Haare hatte wie Anna. Der Gedanke war nicht so tröstlich, wie sie es sich erhofft hatte.
    Im Lokus reinigte Cortez sich das Gesicht und die Hände mit feuchten Tüchern und warf sie in den Recycler. Clarissa verfolgte im Geiste ihren Weg durch die Rohre bis tief ins Innere des Schiffs. Sie wusste, wie so etwas auf der Cerisier und der Prince ablief. Hier konnte sie nur spekulieren.
    Du lenkst dich mit Nebensächlichkeiten ab, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Die Worte entstanden irgendwo in ihr und kamen nicht von außen, nicht von einem anderen Menschen. Ein Teil von ihr sprach zu den anderen Teilen. Du willst dich nur ablenken.
    Aber wovon?, fragte sie sich.
    »Danke.« Cortez’ Lächeln war schon fast wieder das alte, er ähnelte allmählich wieder dem Mann, den sie vom Bildschirm kannte. »Ich wusste, dass es Widerstand dagegen geben würde, das Richtige zu tun, aber ich war nicht darauf vorbereitet. Spirituell gesehen, war ich nicht dafür bereit. Es hat mich überrumpelt.«
    »Das lässt sich wohl nicht vermeiden«, sagte Clarissa.
    Cortez nickte. Er war etwa im Alter ihres Vaters. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Jules-Pierre Mao in dem kleinen Raum schwebte und wegen einer toten Ingenieurin weinte. Es gelang ihr nicht. Sie konnte sich nicht einmal vorstellen, dass er hier wäre und wusste auch nicht, wie er jetzt aussah. Sie hatte eher einen gefühlsmäßigen Eindruck von seiner Macht, seiner Schlagfertigkeit und seiner ungeheuren Bedeutung. Die körperlichen Einzelheiten waren unwichtig. Cortez betrachtete sich im Spiegel und fing sich allmählich wieder.
    Er wird sterben, dachte sie. Er verurteilt sich selbst und alle anderen auf diesem Schiff hier im Dunklen zu einem Tod, vor dem es keine Rettung gibt, weil er glaubt, es sei richtig und eine edelmütige Tat. Handelte Ashford aus den gleichen Beweggründen? Sie wünschte jetzt, sie hätte öfter mit dem Kapitän gesprochen, als sie gemeinsam gefangen gewesen waren. Vielleicht hätte sie ihn und seine Motive besser verstanden. Warum er bereit war, für diese Sache zu sterben. Noch wichtiger, warum er bereit war, zu töten. Vielleicht geschah es aus Altruismus und Edelmut. Vielleicht war es Angst. Oder Kummer. Solange er tat, was getan werden musste, spielten die Gründe keine Rolle, und doch war sie neugierig. Sie wusste wenigstens, warum sie hier war. Sie wollte sich erlösen, sie wollte einen Grund zum Sterben haben und alles wiedergutmachen.
    Du lenkst dich nur ab.
    »… meinen Sie nicht?« Cortez lächelte milde und wehmütig. Sie hatte keine Ahnung, worüber er gesprochen hatte.
    »Mag sein.« Sie stieß sich vom Türrahmen ab, um ihm Platz zu machen. Cortez zog sich an den Handgriffen weiter und versuchte,

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