Abaddons Tor: Roman (German Edition)
machten, standen nutzlos im falschen Winkel. Die Nauvoo war ein Wunderwerk des menschlichen Optimismus und der Ingenieurskunst gewesen, ein Glaubensbekenntnis für die vereinten Kräfte Gottes und die Kunstfertigkeit der Erbauer. Die Behemoth war Pfusch, und an die Seiten hatte man mächtige Massebeschleuniger geflanscht, die dem Schiff mehr schadeten als jedem Feind.
Und Bull durfte nicht einmal die Probleme lösen, von denen er wusste.
Er durchquerte die Transferstation und wandte sich abwärts in sein Büro. In diesem Bereich waren alle Räume und Gänge schief und warteten auf die Rotationsschwerkraft, die niemals einsetzen würde. Streckenweise nacktes Metall und frei liegende Leitungen verrieten, mit welcher Hast das Schiff zusammengebaut, teilweise zerlegt und neu konstruiert worden war. Bull bekam Depressionen, wenn er daran vorbeilief.
Samara Rosenberg, lange Zeit der Boss des Reparaturbetriebs auf der Tycho-Station und jetzt die Chefingenieurin der Behemoth , wartete in der Wache und sprach mit Bulls neuem Stellvertreter. Sein Name war Serge, und Bull war nicht sicher, was er von dem Mann halten sollte. Serge hatte schon der AAP angehört, als dies noch sehr gefährlich gewesen war. Im Nacken trug er voller Stolz das traditionelle Abzeichen, den geteilten Kreis, als Tätowierung. Wie die anderen Sicherheitskräfte war auch er von Michio Pa rekrutiert worden. Bull wusste nicht genau, wie die Dinge standen. Er vertraute dem Mann noch nicht, und das Misstrauen verhinderte, dass er eine gute Meinung von ihm hatte.
Sam dagegen mochte er sehr.
»Hallo, Bull«, begrüßte sie ihn, als er sich auf das Styroporsofa fallen ließ. »Haben Sie schon mit der XO gesprochen?«
»Wir haben uns unterhalten«, bestätigte Bull.
»Wie geht es nun weiter?« Dabei verschränkte Sam die Arme vor der Brust, als wüsste sie längst Bescheid.
Bull fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. In seiner Jugend waren seine Haare weich gewesen, jetzt hatte er das Gefühl, er könne mit den Fingerspitzen jede Strähne einzeln ertasten. Er zückte sein Handterminal und ließ die Meldungen ablaufen. Fünf Dokumente waren eingegangen – drei Routineberichte der Sicherheitskräfte und zwei Einzelmeldungen: Eine drehte sich um einen Verletzten, die andere war eine Beschwerde wegen eines Diebstahls. Nichts, was nicht warten konnte.
»Hallo, Serge«, sagte Bull. »Könnten Sie hier mal eine Stunde die Stellung halten?«
»Kein Problem, Chief«, erwiderte Serge grinsend. Wahrscheinlich war es nur Paranoia, aber Bull hatte das Gefühl, einen verächtlichen Unterton herauszuhören.
»Danke. Kommen Sie mit, Sam. Ich gebe einen aus.«
Auf einem Koalitionsschiff hätte es damals, als die Erde-Mars-Koalition noch existierte, eine Kantine gegeben. Bei der AAP gab es eine Bar und ein paar familiäre Restaurants, außerdem einen Vorrat an einfachen Fertiggerichten, die kostenlos abgegeben wurden. Die Bar war ein großer Raum, der ursprünglich als Turnhalle oder Spielfeld gedacht gewesen war und hundert Gästen ausreichend Platz bot. Bull hatte allerdings noch nie mehr als zwei Dutzend Menschen dort gesehen. Die ursprüngliche Beleuchtung war blauen und weißen LEDs hinter sandfarbenen Plastikscheiben gewichen. Die Tische hatten schlichte schwarze Oberflächen und waren magnetisiert, um die Trinkbeutel mit Bier und Schnaps zu halten. Hier wurden die Getränke nicht in Gläsern serviert.
»Che-che!«, rief der Barkeeper, als Bull und Sam eintraten. »Guten Morgen und un buen día für euch!«
»Ebenso para te«, erwiderte Sam, die den Dialekt der Gürtler ebenso gut beherrschte wie Bull das Spanisch oder Englisch der Erde. Es war schließlich ihre Muttersprache.
»Was trinken Sie?«, fragte Bull, als er sich in einer Nische niederließ. Aus alter Gewohnheit bevorzugte er Sitzplätze, von denen aus er die Tür im Auge behalten konnte.
»Ich bin im Dienst.« Sie setzte sich ihm gegenüber hin.
Bull beugte sich vor, suchte den Blick des Barkeepers und hob zwei Finger.
»Limonade«, sagte er.
»Sa sa!«, machte der Barkeeper und hob eine Faust, um ein Nicken anzudeuten. Bull wandte sich unterdessen an Sam. Sie war eine sehr hübsche Frau. Niedlich, mit feenhaft geschnittenen Haaren und immer zum Lachen aufgelegt. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Bull eine Minute lang ernsthaft darüber nachgedacht, ob er sie attraktiv fand. Selbst wenn sie ihn mit dem gleichen abschätzenden Blick gemustert hatte, der Moment zwischen ihnen war rasch
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