Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
Nikto vollkommen ernst und deutete zur Tür, „der da gerade geht, der ist, glaub ich, ein Untoter. Und die da, an der Theke, sieht aus wie ’n Engel. Sie lächelt dir zu.“
„Verarschen kann ich mich auch selber.“
„Simon“, Nikto zwang ihn, ihn anzusehen und redete dann ernst weiter. „Ich bin nicht der Erste, der dir das sagt, nicht wahr?“
Simon versuchte Niktos Blick standzuhalten, dann wendete er sich wieder der Kamera zu. Er wollte jetzt nicht denken, was sich ihm aufdrängte, seit er mit Nikto losgezogen war. Die Art, wie er die Welt sah, ähnelte zu sehr dem, was David ihm immer hatte einreden wollen. Da ist mehr, als wir Menschen sehen. Da sind Engel, die uns beschützen. Scheiße! Wo waren die verschissenen, verfickten Scheißengel denn gewesen, als David starb? Simon wollte davon nichts wissen. Es tat immer noch zu weh. Also ging er wieder und wieder die Fotos durch.
„Ich find nichts.“ Er hatte sich einfach nicht konzentrieren können. Die Gedanken an David hatten ihn wieder in Bann gezogen.
„Okay!“ Nikto marschierte los und Simon folgte ihm. Auch wenn sich das blöd anfühlte, einfach immer hinter Nikto hinterherzulaufen. Aber dieser ältere Junge faszinierte Simon. An dem Stehtisch nahe der Tür blieb Nikto kurz bei zwei Mädchen stehen.
„Hey“, sagte er locker. „Schön, dass ihr so schön seid. Wird doch noch ein schöner Tag.“ Damit ging er. Und Simon hinterher. Er schaute sich im Gegensatz zu Nikto noch einmal zu den Mädchen um. Sie lächelten verwirrt. Keine Frage mehr nach der Handynummer? Nichts? Einfach nur so?
„Du meinst, wir hätten sie klarmachen können?“, fragte Nikto Simon, ohne sich zu ihm umzudrehen, weil er Simons Verwunderung ahnte. Simon schloss zu ihm auf.
„Sie haben hinterhergeschaut.“
„Weil ich ehrlich war“, sagte Nikto. „Sie sind schön.“
„Naja“, sagte Simon. Er hatte die beiden nicht so besonders gefunden.
„Naja?“ Nikto war stehen geblieben und sah Simon an. „Okay, komm mit. Komm schon!“ Damit hakte er sich bei Simon unter und marschierte mit ihm schnurstracks wieder zu den beiden Mädchen hin. Die sahen Nikto kommen und warfen ihre Locken in den Nacken. Dann stand Nikto vor den beiden und hielt Simon neben sich.
„Entschuldigt, aber ich möchte meinem Freund erklären, warum ihr für mich schön seid.“
Die Mädchen kicherten unsicher.
„Nicht lachen!“, sagte Nikto. Und als die Mädchen verstummten, deutete er auf die Augen eines der Mädchen. „Siehst du den perfekten Bogen ihrer Brauen. In einer Bewegung geht es über die Nase zu den Lippen. Es ist ein wunderbarer Schwung. Wie gemalt. Und bei ihr“, er deutete auf die Freundin der Ersten, „wie stolz sie ihren Kopf hält. Wenn sie ihn wendet, sieht man ihren Nacken, so gerade, und diesen zarten goldblonden Flaum, einfach schön.“
Die Mädchen faszinierten diese Worte, die so selbstverständlich und ehrlich aus Niktos Mund kamen, dass sie keinen Moment an ihrem Wahrheitsgehalt zweifelten. Simon war es eher peinlich, aber auch er konnte sich der Faszination nicht entziehen. Wie konnte man zu Mädchen so direkt sein, so ehrlich? Wie konnte man so hübsche Mädchen faszinieren, wenn man so hässlich war wie Nikto?
„Jedes Kompliment muss ehrlich sein“, erklärte Nikto, als sie den Coffeeshop endgültig verlassen hatten. „Und vor allem: Niemals! Niemals darfst du ein Kompliment mit einer Absicht verbinden.“ Er ging wieder voran. „Was ist eigentlich mit deinem Stinkefinger passiert?“, fragte er und wandte sich kurz um. Simon hatte keine Lust darüber zu reden. Auch gut. Nikto marschierte weiter, Richtung Bushaltestelle.
Zwanzig Minuten später standen sie vor dem Schließfach mit der Nummer 69. Nikto hatte sich und Simon so gestellt, dass die vermeintlich neu eingerichtete Überwachung sie nicht sehen konnte.
„Also. Was fällt dir auf, was den Bullen nicht aufgefallen ist“, fragte Nikto noch einmal – jetzt in Anbetracht der realen Situation. Simon versuchte, der Sache auf den Grund zu gehen. Er hasste Rätsel. Immer schon. Nie hatte er begriffen, was der Spaß daran war. Jetzt aber hatte ihn der Ehrgeiz gepackt. Simon strich in weiten Kreisen um die Schließfächer, wie eine Raubkatze, die sich an ihre Beute heranschleicht und dann den Weg gegen den Wind aussucht. Plötzlich blieb er stehen. Nikto, der ihm wie zufällig gefolgt war, ging weiter. Er wollte nicht den Kameras auffallen, die hier überall hingen. Sie mussten vorsichtig
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