Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
an die Wasseroberfläche. Nur schlimmer Schmerz konnte so etwas auslösen, dachte Linus. Er schaute weg. Wieder tauchte am Himmel ein Flieger auf.
„Schau hin!“, herrschte Clint Linus an, packte seinen Kopf und drehte ihn zurück zum Aquarium. Der kleine Fisch kämpfte immer noch, streckte den Kopf hervor, als wollte er dem Wasser entkommen. Als läge dort die Ursache seiner Schmerzen. Dann gab er auf. Gab einfach auf und ließ alles Zappeln. Starb.
Linus hasste Clint. Er hasste ihn für seine Kälte. Er hasste ihn dafür, dass er sich selbst so ohnmächtig fühlte. Clint pflückte den toten Fisch von der Wasseroberfläche und warf ihn in den Müll. Dann kam er mit der Spritze zu Linus. Er hockte sich vor ihn hin.
„Na?“, fragte er. „Wie entscheidest du dich?“
So ein Glück, dachte Judith. Sie sah Timber zu, wie er zum mindestens dreitausendeinhunderteinundvierzigsten Mal an diesem kalten Nachmittag das Frisbee fing. Dieser Hund steckte sie ganz einfach an mit seiner Seligkeit. Wenn sie ihm zusah, wie er mit unermüdlichem Enthusiasmus der fliegenden Scheibe hinterherschoss und dann wie ein kleiner Springbock im richtigen Moment mit allen vieren abhob, das Maul öffnete und zuschnappte. Judith glaubte dann, Stolz in Timbers Augen erkennen zu können. Seit sie Timber von Linus angenommen hatte, hatte sie sich verändert. Dieser Hund war. Mehr nicht. Er war ganz in dieser Welt. Mit all seinen Sinnen. Und mehr wollte er gar nicht. Judith begriff das an diesem Nachmittag. Was hatte sie dagegen alles sein wollen. Cool vor allem. Patzig. Immer schneller den frechen Spruch auf den Lippen als andere. Um ja nicht selbst verletzt zu werden. Sie bestimmte, wer ihr nahkommen durfte, und sie ließ viel zu oft Nähe zu. Viel zu nahe Nähe. Mit keinem der Jungs, mit denen sie bisher geknutscht oder geschlafen hatte, hatte es ihr wirklich Spaß gemacht. Sie hatte es mehr oder weniger über sich ergehen lassen. Das Schlimmste war, dass sie sich daran gewöhnt hatte, dass es so war. Linus aber ... Mit Linus war das anders. Sie hatte ihm den ersten Kuss gegeben, hatte wieder mal die Coole gespielt. Aber dann war da dieses seltsame Gefühl. So wohlig. Im ganzen Körper. Als würde sie innerlich lächeln. Mit jeder Faser ihres Körpers. Es hatte sie so erschreckt, dass sie abhauen musste. Nur gut, dass Linus damals unter der Autobahnbrücke diesen Anruf von seiner Mutter bekam.
Wie hatte Judiths Herz geklopft, als sie Linus in der Kirche wiedersah. Doch da war noch so viel alte Judith in ihr, dass sie sich alle Romantik verbot. Sie spuckte Linus auf die Stirn, als er zu ihr hinaufsah. Wieder empfand sie dieses schöne Gefühl. Es fühlte sich an wie „ Zu Hause “ , wie „ angekommen “ . Ausgerechnet Linus war es, der ihre Nähe nicht wollte. Ihren Körper. Wie sie ihn umso mehr vermisste, wenn sie an ihn dachte. Nicht in der Schule oder wenn sie mit anderen etwas unternahm. Jetzt, mit Timber, da dachte sie immer wieder an Linus. Und seit der Begegnung mit dem Blötschkopp Olsen noch viel öfter. In ihren Träumen sogar. Judith hatte von Linus’ Tod geträumt. Wobei ... es war eigentlich kein Tod, nur ein Verschwinden. Als würde er sich vor ihren Augen auflösen. Ein Geist werden; durchsichtig.
Timber bellte und sprang um Judith herum. Er hatte das Frisbee zurückgebracht und obwohl er vollkommen außer Atem war, konnte er nicht genug bekommen. Da hob Judith den Zeigefinger, Timber setzte sich und wurde still.
„Zeit nach Hause zu gehen, Timber!“ Judith gab ihrem Freund das Frisbee in die Schnauze und Timber trug es stolz neben Judith her. Dunkle Wolken zogen über den Rhein heran, doch irgendwie konnten sie sich in der Höhe des Doms nicht entscheiden, den Fluss zu überqueren. Judith radelte, Timber trabte nebenher, und ohne dass der Schneeregen sie erwischte, schafften sie es bis zur Kirche. Judiths Mutter probte wieder mit dem Chor. An diesen Tagen ging Judith mit Timber immer zu den nahen Rheinwiesen. Und da die Probe länger dauerte, weil sie für das » Weihnachtsoratorium « probten, wartete Judith bei Rob und den Zwillingen im Pfarrhaus. Timber kannte, was nun kam. Martin und Katharina stürzten sich auf den Hund und der ließ Streicheln und Kuscheln tapfer über sich ergehen. Er wusste, dass er danach immer irgendetwas Süßes zugesteckt bekam.
Judith wartete in der Küche bei einer Tasse heißer Schokolade, die Rob ihr aus Fairtrade-Kakao kochte. Rob sah schlecht aus. Judith brachte das Gespräch
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