Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
ein Ausgang herausführte. Und sechs ins Verderben, dachte Edda. Sie überlegte fieberhaft, während sie ziellos weiterging. Bis sie sich vor einer großen, doppelten Haustür, die zu einem alten Gemäuer aus dem 19. Jahrhundert gehörte, wiederfand. Edda wusste nicht, warum sie genau davor stehen blieb, aber sie konnte nicht mehr weitergehen. Ihre Beine hatten sie hierhergeführt.
Die Fenster des Hauses starrten tot, wie erblindet hinaus auf den Fahrdamm und hinter dem Schmutz der Scheiben war nur Dunkelheit zu sehen. Auf keinen Fall würde sie diese unheimliche Ruine betreten, dachte Edda. Carl Bernikoff würde niemals in so ein Geisterhaus gehen! Er war ein kultivierter, liebevoller Mann. Und er war tot. Oder über Hundert.
Edda spürte, wie sie unruhig wurde und die Sicherheit aus dem Traum sie verließ. Sie verschwand im gleichen Maß wie die Gelegenheit, den Mann von vorhin zu finden. Sie musste handeln. Mit beiden Armen schob Edda die Haustür auf und stand in einem langen, hohen Gang, einer Halle fast, von deren Ende mattes Licht durch eine bunte Scheibe auf den gekachelten Boden fiel. Geblendet hielt Edda sich die Hand vor die Augen und schaute auf den Boden, wo zwei altertümliche Paar Schuhe mit Gamaschen standen, aus denen sich ein altmodische Anzug in die Höhe zog bis zu einem breitkrempigen Hut, der das Gesicht des Mannes verdeckte. Edda erschrak. Sie hörte, wie die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, drehte sich um. Und zurück. Die Gestalt war weg. Eddas Blick folgte dem Balken aus Licht, der sich beharrlich über den Boden schob. Für einen Augenblick war es vollkommen still. Staubkörner tanzten auf den Lichtstrahlen. Wie Noten, dachte Edda. Wie schön müsste es sein, diese Noten spielen zu können. Bestimmt wäre ihr Klang himmlisch.
Aus der Tiefe des Hauses war plötzlich Getrappel zu vernehmen, so als ob jemand von weit oben die Treppen heruntergelaufen kam. Sie spürte, dass sie sich beeilen musste, wenn sie nach dem Fremden rufen wollte. Wenn sie ihm wirklich begegnen wollte.
Die Schritte auf der Treppe wurden immer lauter. Das Licht immer heller. Wieso konnte sie nichts sagen, wieso stand sie hier wie angewurzelt und war sich nicht mehr sicher, ob der Mann überhaupt jemals dort gewesen war? Edda drehte sich nach dem Treppenaufgang um.
Niemand erschien. Nur der Sonnenstrahl war noch auf dem Boden zu sehen. Aber er blendete sie nicht mehr. In diesem Augenblick verstummte auch das Getrappel.
Es war völlig still.
Edda lief zur Tür, die in den Hinterhof führte, doch auch dort war niemand zu sehen. Edda lief weiter. Noch ein Hinterhof. Noch eine Tür. Und noch eine. Sie blieb stehen und lauschte. Das Haus schien kein Ende zu nehmen. Hoch oben auf dem Dach saß eine Gruppe Krähen, die plötzlich aufstoben und geräuschlos in den blauen Himmel flogen.
Für einen Augenblick stand Edda im menschenleeren Hinterhof und blickte an dem hohen Gebäude empor. Was wollte sie von diesem Mann? Warum zog es sie mit beinahe schicksalhafter Kraft zu ihm? Es hat mit Marie zu tun, dachte Edda. Damit, dass sie in ihrem Traum das gleiche vertraute Gefühl gespürt hatte wie in Maries Gegenwart. Dass Bernikoff sie in dem Traum „Marie“ genannt hatte. Und dass der Mann, dem sie folgte, aussah wie der Große Furioso.
Edda senkte den Blick, schaute vor sich hin. Nein. Wahrscheinlich hatte sich in ihrem Kopf einfach nur Realität mit Traum vermischt, als sie aufgewacht war und aus dem Fenster des Restaurants geschaut hatte. Wem wollte sie erzählen, dass sie Carl Bernikoff auf der Straße getroffen hatte? Einen Mann, der 1945 zuletzt gesehen worden war und von dem die meisten annahmen, er wäre kurz vor Kriegsende in einem Tunnel unter der Stadt ertrunken. Edda spürte, dass diese Gedanken sie schwächten.
Sie ging auf den ihr am nächsten liegenden Treppenaufgang zu und öffnete die kleine, blau gestrichene Tür, die in den Aufgang führte. Edda lauschte: Nichts war zu hören. Nur in ganz großer Entfernung, unendlich weit weg, wieder Getrappel. Wenn der Fremde hinter dieser Tür verschwunden war, hätte Edda zumindest seine Schritte auf der Treppe hören müssen. Es sei denn, er war in die Erdgeschosswohnung gegangen. Edda betrat den dunklen Hausflur und ging die wenigen Stufen hinauf zu den Türen im Erdgeschoss. Auf dem Weg drückte sie auf den Lichtschalter, doch die Glühbirne erhellte den schummrigen Flur kaum. Im Gegenteil – Edda hatte den Verdacht, das Licht der Lampe verdunkele die Welt. Sie
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