Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
konnte kaum erkennen, was auf dem Klingelschild stand. Ratlos blickte sie sich um. Sie klopfte zaghaft an die rechte der beiden Türen. Nichts regte sich. Edda klopfte noch einmal, trat näher und legte ein Ohr an die Tür, um zu horchen, ob sich dahinter jemand bewegte. Tatsächlich meinte sie, ein leises Rascheln, Streicheln oder Rauschen zu hören. Sie war sich nicht sicher, ob das Geräusch von einem Menschen stammte oder eher von einem Hund, da es unten an der Tür am lautesten zu sein schien. Edda ging in die Knie und lauschte. Nein, da war nichts. Nichts Lebendiges. Nur irgendein elektrisches Geräusch. Sie stand wieder auf und ging zu der anderen Tür. Auch hier war unlesbar, was auf dem Klingelschild stand. Die Klingel darunter war ein altmodisches Ding, eine Ziehklingel aus dem 19. Jahrhundert. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft sie daran hindern, die Türklingel zu benutzen. Worauf ließ sie sich ein, wer war der Mann? Was sie gerade tat, widersprach jeder Vernunft.
Edda drehte sich um. So leise, als wolle sie ihre Schritte ungeschehen machen, lief sie die Treppen wieder hinab in den Innenhof. Sie merkte, dass sie mit jedem Schritt schwächer wurde. „Weil ich mich nicht getraut habe“, dachte sie. Sie schaute sich um. Beobachtete sie jemand? Als ihr Blick an der Fassade des alten Gebäudes hinaufwanderte, meinte sie, ihn hinter einem der Fenster zu sehen. Sie zählte die Stockwerke, um herauszufinden, in welcher Wohnung er sich aufhielt, als sie bemerkte, dass es für das Fenster, an dem der Mann stand, kein Stockwerk zu geben schien. Sie schaute am Haus hinauf, zählte noch einmal. Sie ging auf den Hauseingang zu und an den Haustüren zum Erdgeschoss vorbei hinauf in den ersten Stock. Dann lief sie weiter, bis sie unter dem Dach angekommen war. Fünf Stockwerke gab es und doch hatte sie draußen auf dem Hof sechs Reihen Fenster gezählt. Der Fremde musste irgendwo dazwischen sein. Als Edda die Treppen wieder herunterlief, fiel ihr plötzlich eine kleine Tür auf, die im trüben Licht der Flurlampe auf dem Treppenabsatz zwischen den Stockwerken kaum zu erkennen war. Jemand hatte sie in der gleichen Farbe wie den Hausflur gestrichen und die Klinke unterschied sich kaum vom Holz der Tür. Edda rüttelte daran, doch die Tür war von Farbe verklebt und ließ sich nicht einfach öffnen. Alles schien dagegenzusprechen, dass Edda den Mann finden würde.
„Du musst ja nicht durch die Tür gehen! Wichtig ist, dass du dort ankommst, wohin du willst!“ Wieder diese Stimme in Eddas Kopf. Nein, sie konnte sich nicht um Kleinigkeiten wie Türen oder Stockwerke kümmern! Sie musste dorthin, wo er war. Notfalls auch ohne Tür. Im Grunde verhinderte der Gedanke daran, dass sie keine passende Tür fand, dass sie den Mann fand. War es nicht so?
Verwirrt setzte Edda sich auf die Stufen der Treppe und starrte auf die verklebte Tür. Wenn sie sich ausreichend darauf konzentrieren würde, dann würde es ihr gelingen, sie zu öffnen oder einfach hindurchzugehen. Davon war sie plötzlich überzeugt. War sie bescheuert? Doch kaum hatte sie diesen Gedanken für möglich gehalten – einen Gedanken, der ihr vor einiger Zeit noch vollkommen unsäglich, ja peinlich vorgekommen wäre – öffnete sich eine der Türen auf dem Treppenabsatz. Edda wartete darauf, dass jeden Augenblick der Mann im Türrahmen auftauchen würde. Die Tür blieb einen Spalt offen stehen. Sonst bewegte sich nichts. Durch eines der hohen Fenster fiel Licht in den Flur.
Edda ging auf die Tür zu und öffnete sie vorsichtig. Hinter der Tür führte eine kleine Treppe hinab in einen schmalen Flur und von dort in einen großen, hohen Raum. So hoch, dass eine Zwischendecke eingezogen und neue Fenster eingesetzt worden waren. Eine Wendeltreppe führte in das neue Geschoss.
Sie blickte sich in der merkwürdigen Mischung aus Wohnung und Werkstatt um. Die Wände waren mit Draht und Metall verkleidet wie ein Käfig. An einigen Stellen waren Ableiter befestigt, die zu selbst gebauten Geräten führten. An den Wänden standen Computer und andere ähnliche Maschinen auf langen Tischen. Nichts schien gekauft oder Markenware zu sein. Es war das Refugium eines Mannes, der sich seine Welt selbst erfunden oder geschaffen hatte. Und nichts an der schäbigen alten Fassade hätte von außen auf diese Welt schließen lassen. Es war die perfekte Tarnung.
„Hallo!“, rief Edda. Niemand antwortete.
Sie ging an die Tische mit den Computern, über denen alte
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