Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
pegelte die Frequenzen auf das Normalmaß. Sie starrten auf Olsen. Es dauerte. Tränen liefen über seine Wangen. Langsam kehrte wieder Farbe in sein Gesicht zurück. Die Spannung, die seinen Körper erfasst hatte wie eine eiserne Faust, löste sich. Sein Atem fiel in einen normalen Rhythmus. Er schloss erschöpft die Augen. Kein Laut war zu hören, als er sie wieder öffnete und die Kinder ansah. Niemand wagte zu fragen, was Olsen durchgemacht hatte.
„Wie lange hat es gedauert?“, fragte er schließlich.
„Keine fünf Minuten“, sagte Linus.
Olsen verstummte, schüttelte ungläubig den Kopf.
„Für mich waren es sechzig Jahre.“
Olsen hatte einen absurd großen Appetit an diesem Abend. Sie saßen in einem der kleinen afrikanischen Imbisse, die sich in dem Viertel angesiedelt hatten, und aßen gegrilltes Huhn, Garnelen und Kokosnusspudding. Neben drei alternativ gekleideten und ziemlich runden Berlinerinnen waren sie die einzigen weißen Gäste hier. Olsen erklärte die Gerichte mit einer Genauigkeit, als hätte er sie selbst gekocht. Das hatte er nicht. Aber er wusste nun, wie sein Leben verlaufen war. Und dazu gehörten ein paar Jahre in Südafrika und im Kongo. Nichts davon verriet er den Kindern. Er würde lange brauchen, um damit klarzukommen, was er in den vergangenen Jahren an Schuld auf sich geladen hatte. Edda, Simon und Linus zu helfen war für Olsen ein erster Schritt, sein Leben in bessere Bahnen zu lenken. Nach der Befreiung von Marie würde er nach Montevideo zu fliegen. Zu Elisabeth. Das war sein Plan. Er hatte das Gefühl, dass sich allein schon der Gedanke daran nach Glück anfühlte.
Vorher aber galt es, gegen GENE-SYS anzutreten. Zu Simons Plan gehörte, dass sie das graue Pulver in die Lüftung des Teufelsberges einspeisten, um die Mitarbeiter des Konzerns auszuschalten und Marie zu befreien.
„Wäre genial, einen Bauplan der Anlage zu haben“, überlegte Olsen bei seiner zweiten Portion Huhn, „um den Verlauf der Lüftungsrohre zu kennen.“
„Ich glaub, ich weiß, wer uns helfen könnte“, sagte Edda.
Die drei anderen schauten sie groß an. Edda brachte die Sprache wieder auf Meyrink.
„Er wusste so viel über GENE-SYS .“
Linus und Simon warnten. Sie waren sicher, dass Meyrink ein Lockvogel von GENE-SYS war. Olsen beteiligte sich nicht an der Diskussion. Er wischte seine Finger ab, nahm Linus’ Laptop und gab „ GENE-SYS “ und „Meyrink“ in die Suchfunktion ein. Keine Einträge. Also rief er die Website von GENE-SYS auf, die nur spärliche Informationen gab. Ein wenig Historie, ein paar Ziele und Projekte.
„Mager für so einen Riesenkonzern“, wunderte sich Olsen. „Als hätten sie was zu verstecken.“ Er wollte den Laptop schon wieder schließen, als Edda ihn abhielt.
„Moment!“ Sie hatte etwas entdeckt. Auf der Website von GENE-SYS . In dem kurzen Text über die Historie. Sie scrollte die Zeilen über die Gründung in den 1950ern hinunter bis zu einem Foto. Es zeigte Greta und einen Mann neben ihr.
„Das ist Meyrink“, sagte sie verblüfft.
„William Bixby steht da“, sagte Linus, der sich das Foto ansah.
„Aber – das ist Meyrink!“, sagte Edda.
„William Bixby, Mitbegründer von GENE-SYS . Amerikaner“, zitierte Linus und überflog die weiteren Zeilen. „Ich hab’s gewusst. Der Scheißkerl hat das alles mitentwickelt.“
„Ich versteh das nicht“, sagte Edda. „Ich war mir sicher, dass er auf unserer Seite steht.“ Sie konnte nicht begreifen, dass Meyrink sie so hatte täuschen können. Eigentlich hatte sie immer noch das Gefühl, dass sie recht hatte.
„Gehen wir zu ihm“, sagte Edda entschlossen. „Ich will wissen, ob der lügt.“
Sie sah Linus, Simon und Olsen an. Die drei erkannten, dass sie sich nicht davon würde abbringen lassen.
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Unter ihnen lag die Stadt wie ein Teppich aus blinkenden Lichtern. Über ihnen wölbte sich die Nacht. Nasse, schwere Schneeflocken taumelten auf sie auf herab wie abgeschossene Kamikazeflieger und nahmen ihnen die Sicht. Die Sicht auf den Horizont und auf den Teufelsberg mit seinem Turm, dessen rotes Warnlicht die Flugzeuge vor einer Kollision bewahren sollte. Das Gestöber nahm ihnen auch die Sicht auf einander. Heute. Am Heiligen Abend. Auf einem Flachdach über Berlin.
Vor einer Stunde waren sie losgezogen. In die Kälte. Edda, Linus und Simon hatten ihre Sachen in Olsens Wagen verfrachtet, der jetzt ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt parkte. Olsen hatte die Frequenzbox
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