Abaton: Die Verlockung des Bösen (German Edition)
und die Haube mit den Drähten eingepackt und danach die notwendigen Programme seines Computers auf das Notebook von Linus überspielt, um Marie jederzeit von der Wirkung der Droge befreien zu können.
„Sie sind unterwegs“, sagte Meyrink ins Telefon. Er hatte auf seinem Monitor einen Stadtplan, wie es ihn auch in der Zentrale von GENE-SYS gab. Und auch Meyrink empfing darauf die Signale, die Linus, Simon und Edda aussandten. Kurz darauf hatte Meyrink die Nummer eines öffentlichen Fernsprechers angewählt. Irgendwo in der Stadt, in einer Einkaufspassage, die aus den 70ern des vergangenen Jahrhunderts stammte, war der hagere Mann aus dem kleinen China-Imbiss gegenüber aufgestanden und hatte den Hörer vom Telefon abgenommen. Durch die leeren Gänge der Passage dudelte schrecklich laut Bing Crosbys Traum von der weißen Weihnacht. Der Hagere hielt sich ein Ohr zu, um verstehen zu können, was Meyrink sagte.
„Sie können sich auf auf den Weg machen, Dr. Schifter. Wie lang werden Sie brauchen?“
„40 Minuten“, antwortete Dr. Schifter. „Plus minus.“
Erst als sie Edda auf das Dach gefolgt waren, hatte Olsen entdeckt, dass jeder der Jungen eine Waffe bei sich trug. Er hatte sich instinktiv umgeschaut, die Situation für sich eingeschätzt. Wie ein Computer checkte er mögliche Fluchtwege, Gefahrenpunkte und nahe Deckung. Kabel fielen ihm auf. Antennen, die nicht zum Empfang von Radio oder Fernsehen bestimmt sein konnten. Er schwieg dazu, wollte die Kinder nicht beunruhigen.
Als er sich zu ihnen umdrehte, hatten die Jungs ihre Waffen gezückt und gingen voran. Olsen hatte sofort im Kopf, was ihm die Droge an Erinnerung zurückgegeben hatte. Alles war von großer Grausamkeit. Immer waren Waffen im Spiel gewesen.
„Trag niemals eine Waffe, wenn du nicht entschlossen bist sie zu benutzen!“, sagte Olsen. Linus und Simon sahen ihn an, wollten nicht diskutieren, wollten einfach weiter.
„Seid ihr entschlossen?“, hielt Olsen sie auf. Er wartete auf eine Antwort. Die Jungs nickten zaghaft. „Dann schießt!“ Olsen deutete auf zwei Tauben, die sich in den Schutz eines Schornsteins zurückgezogen hatten.
Es war kalt hier oben, die Jungs froren. Sie wollten sich keine Blöße geben. Nicht voreinander und nicht vor Olsen. Sie hoben die Waffen, um zu zielen.
„Nein!“, ging Edda dazwischen. „Was haben die Tauben damit zu tun?“
Die Jungs schauten zu Edda, zu Olsen. Der zeigte keine Regung. Zu gut konnte er sich nun, nachdem er sein Leben an sich hatte vorübereilen sehen, an den Moment erinnern, als er das erste Mal getötet hatte. Die Droge hatte die Erinnerungen, die Gefühle befreit, die er in sich verschlossen hatte. Bei allem Leid – Olsen war dankbar, dass er empfinden konnte, wie falsch sein Handeln all die Jahre gewesen war.
Die Jungs standen da, hatten die Waffen wieder erhoben und zielten. Da klatschte Olsen in die Hände. Die Tauben flogen auf und davon.
„Scheißspiel!“ Edda stapfte voran.
Auf dem Weg zum Dach war ihnen eine Familie begegnet, die von der Bescherung kam. Der kleine Sohn war in den Armen seines Vaters eingeschlafen, die Mutter nickte Edda freundlich zu. Eddas und Simons Blick hatten sich über dem Kopf des kleinen Jungen getroffen. Beide mussten sie lächeln. Ein Kind. An Heiligabend.
Was die Familie wohl gemacht hätte, wenn sie gewusst hätte, dass Linus und Simon Waffen bei sich trugen? Dass sie vorhatten eine Organisation zu überfallen? Dass zwei von ihnen bereits ein Menschenleben ausgelöscht hatten? Sah man es Linus und Olsen an? Oder wirkten sie wie drei Kinder, die mit ihrem Opa die Treppen hinaufstiegen und ihre Familie besuchen wollten? Alles war nur noch Schein, dachte Edda. Manipulation, Schachzüge – und doch schien ihr Leben durch diesen Schein immer realer, immer dringlicher zu werden, immer schneller. So wie die Flocken, die aus dem Dunkel zu Tausenden auf sie hinabfielen und sich auf Eddas Haut auflösten, bevor sie für immer verschwanden.
Vielleicht gibt es eine Welt, in der Schneeflocken auch ein Leben haben, dachte Edda. Vielleicht schrien sie vor Angst, bevor sie auf ihrer warmen Haut zerschmolzen, vielleicht versuchten sie verzweifelt auf dem Dach zu landen, bei den anderen, die viele Schneeflockenjahre liegen blieben. Immer dichter legten sie sich über die Dächer und dämpften den Schall der weihnachtlichen Straßen.
Wie in einer Schneekugel, dachte Edda. Eine Schneekugel mit einem alten, merkwürdigen Söldner mit eingedelltem Kopf,
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