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ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)

ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)

Titel: ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Jeltsch
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die Tür schloss. Marie umarmte ihn noch einmal.
    „Stell dir vor, ich konnte mich nicht daran erinnern, wo wir wohnen! Ich erinnere mich nur, wie wir uns auf dem Gang im Theater getrennt haben ...“
    Bernikoff nickte. „Ich hab dich dort hypnotisiert – damit du nicht zu lügen brauchst, falls du ihnen in die Hände fallen solltest.“
    Marie wusste nicht, wovon er sprach. Sie schaute aus dem Fenster der Souterrainwohnung und sah, wie ihre beiden Verfolger aus einem Wagen stiegen und auf die Wohnung zugingen.

    Und dann erwachte Marie. Jede Woche wieder. Bis zu dem Tag, als Jimmy nach Cuxhaven gekommen war. In einem dünnen Sommeranzug, mit seinem kleinen Koffer und der Klarinette in der Hand. Sie wusste noch wie heute, wie er an ihrem Vater vorbei in ihre Augen geschaut hatte und sie das Gefühl hatte, er sehe nur sie.
    Jimmy war mit seinen Eltern von New York nach Deutschland gekommen, schon als Kind konnte er Klarinette und Piano spielen. Sein Vater hatte zwei Wohnhäuser in Hamburg geerbt, und nachdem seine Eltern in die USA zurückgekehrt waren, fand Jimmy Anschluss an deutsche
    Swing-Musiker in Hamburg. Unter den Nazis war diese Musik allerdings verboten worden. Wer dabei erwischt wurde, dass er BBC hörte oder Swing tanzte, musste damit rechnen, nach Fuhlsbüttel in die Haftanstalt gebracht zu werden oder in ein KZ für Jugendliche, das es in Moringen gab. Aber Jimmy und seine Freunde ließen sich von den Nazis nicht beeindrucken. Fast jedes Wochenende fuhr er mit dem Zug zwei Stunden nach Hamburg, um mit ihnen zu spielen. Einmal hatte Marie ihn begleitet und danach hatte es den ersten großen Krach mit ihrem Vater gegeben.
    Bernikoff hatte Jimmy angeheuert, weil er der Klarinette die unwahrscheinlichsten Töne entlocken konnte. Töne, die Bernikoff aufzeichnete und weiter verfremdete mit einem Modul, das er von einem Spieluhrenhersteller hatte anfertigen lassen. Bernikoff wusste, dass die Frequenzen mancher Töne und Tonkombinationen heilen, ja sogar das Bewusstsein erweitern konnten. Er wollte diese Töne mit Bildern kombinieren, um sie über die Wochenschauen oder die neu erfundene Fernsehtechnik der deutschen Bevölkerung aufzuspielen. Doch je weiter der Krieg voranschritt, desto weniger Menschen blieben für die Wochenschauen in den Kinos, und die Entwicklung des Fernsehens war schließlich völlig eingestellt worden.
    Bernikoff rannte die Zeit davon. Fieberhaft hatte er in Cuxhaven an der Entwicklung einer Klangkammer gearbeitet und nächtelang mit Jimmy an der Erschaffung neuer Töne und Frequenzen getüftelt. Sie hatten die höchsten und tiefsten Töne der Klarinette gespielt und aufgezeichnet. Dann hatte Bernikoff sie mithilfe einer Lichttonorgel auf eine mit Fotoemulsion beschichtete Tonscheibe übertragen und die Töne über Verstärker und Lautsprecher wiedergegeben.
    Fast jeden Tag war Jimmy bei Marie und Bernikoff im Haus gewesen. Und in den Pausen oder wenn Bernikoff nach Hamburg fuhr, hatten sie lange Spaziergänge am Strand unternommen oder Wattwanderungen bis nach Neuwerk, einer kleinen Insel, und den fahrenden Schiffen am Horizont nachgesehen. Hätten die Todesanzeigen der Gefallenen in den Zeitungen nicht immer größeren Raum eingenommen und wären die Nahrungsmittel nicht rationiert worden, hätten sie sich über das warme Wetter, die friedliche Ruhe und einen unbeschwerten Ausflug an die Nordsee gefreut. Der Minensucherhafen und die Marineflieger, die immer häufiger ausflogen, um feindliche Schiffe zu bombardieren, zeigten ihnen allerdings, dass der Krieg selbst das abgelegene Cuxhaven erreicht hatte. Jeder noch so kleine Fehltritt konnte große Kreise ziehen oder zur tödlichen Schlinge werden, aus der es kein Entkommen mehr gab.

    Marie vertrieb all die Erinnerungen. Sie wusste, dass sie vor einer Entscheidung stand. Jimmy hatte beschlossen, zurück nach Amerika zu fahren, und er fragte nicht nur, ob sie mitkommen wollte.
    „Es hat keinen Sinn mehr, hier noch etwas zu tun. Dieses Land wird zur Hölle fahren und uns alle mitnehmen. Komm mit nach Amerika.“
    „Ich habe nichts gepackt“, sagte sie zaghaft.
    „Aber ich. Die Sachen im Koffer sind alle von dir. Dein Mantel, deine Lieblingskleider ...“
    Marie schwieg. Ihre Mutter und ihre schwester Louise waren in den USA. Sie stellte sich vor, wie es sein würde, wieder mit ihnen zu leben. Ohne ihren Vater. Bernikoff hasste die Vereinigten Staaten, weil sie die Möglichkeit gehabt hatten, den Krieg zu verhindern und die vielen

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