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ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)

ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)

Titel: ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Jeltsch
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In letzter Sekunde war er ausgestiegen. Er hatte keine Ahnung, warum. Doch es war wie ein Befehl gewesen, den er empfangen hatte. Köln ... das war die Stadt, in der Olsen Linus begraben hatte. War es Linus, der ihn „gerufen“ hatte? Simon konnte es sich nicht anders erklären. Er musste Linus’ Grab besuchen. Gegen Mittag würde ein weiterer Zug über Hamburg nach Cuxhaven fahren. Das ließ ihm drei Stunden Zeit.

    Von einer Telefonzelle hatte Simon alle Friedhöfe der Stadt durchtelefoniert und schließlich den gefunden, auf dem Linus beerdigt worden war. Nun stand er seit fast einer halben Stunde im Schneegestöber vor dem Friedhof und traute sich nicht, ihn zu betreten. Niemals hätte er sich das so schrecklich schwer vorgestellt, doch alles, was Simon von der Beerdigung seines Bruders glaubte vergessen zu haben, war plötzlich wieder da. Der Unglaube, dass das Leben ein Ende haben sollte. Die Wut auf David, der ihn allein gelassen hatte. Die schmerzhafte Erkenntnis, dass er seinen Bruder nicht hatte retten können. Die Eifersucht auf die Tränen der Eltern ... All das war mit einem Mal lebendiger in seinem Herzen, als er es bei der Beerdigung seines Bruders erfahren hatte.
    Auf dem Lageplan des Friedhofs hatte Simon schon den Platz von Linus’ Grab ausfindig gemacht. Doch immer noch weigerte sich etwas in ihm, den Weg dorthin zu gehen. War das überhaupt noch Linus, der dort in der Erde lag? Das, was Linus ausgemacht hatte? Sein Mut. Seine Ausdauer. Sein Erfindungsreichtum. Sicher nicht. Es war nur eine Hülle, die da beerdigt worden war. Simon war immer überzeugter, dass er nicht an Linus’ Grab gehen musste. Er würde den Freund in seinen Gedanken wach halten. In seinem Herzen.
    Simon wandte sich um zum Gehen und hielt inne. Aber irgendwer hatte ihn doch gerufen, hatte ihn dazu gebracht, aus dem Zug zu Edda auszusteigen. Simon begriff, dass er einfach Angst hatte. Er hatte Angst davor, Linus’ Namen auf dem Grabstein zu lesen. Weil es dann Gewissheit sein würde, dass er tot war. Bis jetzt konnte sich Simon an die bescheuerte Hoffnung klammern, Olsen hätte gelogen. Oder er hätte Linus verwechselt. Oder ... oder ... Simon wollte nicht wieder in dieser tiefen Trauer versinken, die er nach Davids Tod durchlebt hatte.
    Im selben Moment, in dem er das erkannte, war Simon klar, dass diese Angst noch aus einem vergangenen Leben stammte. Aus seinem Leben vor gene-sys . Also gab er sich einen Ruck und ging los ...
    Pappiger Schnee knirschte unter seinen Füßen. Simon zählte seine Schritte. Das war eine Angewohnheit von David gewesen. Er hatte die Strecken, die er gegangen war, immer nach Schritten abgeschätzt. Und wenn er richtig geschätzt hatte, so glaubte er, dann würde es ihm genau so viele Tage Glück bringen, wie es Schritte waren.
    Einhundertunddreiundzwanzig ... Simons Schätzung nach hatte er noch dreiundachtzig Schritte vor sich. Er bog zum nächsten Querweg ab und sah, wie sich schwarze Gestalten aus dem Weiß lösten und ihm entgegentraten wie Schatten. Es waren trauernde Menschen, die gerade einen der Ihren beerdigt hatten. Wie eine dunkle Wand bauten sie sich vor ihm auf. Er ging weiter, und die Wand aus Trauernden bot ein schmales Schlupfloch, durch das Simon treten konnte.
    Einhundertundneunundsechzig ...
    Er ging weiter, bis er das schmale Grab mit dem unscheinbaren Holzkreuz durch das Schneegestöber sehen konnte. Simon ging näher und machte kleine Schritte. Einhundertfünfundneunzig, sechsundneunzig ... Simons Schritte wurden immer kürzer. Dann stand er an Linus’ Grab. Zweihundertundsechs. Exakt. Zweihundertundsechs glückliche Tage lagen vor ihm.
    Simon las Linus’ Namen auf dem Kreuz. Er ließ es auf sich wirken, und überrascht stellte er fest, dass er keine Trauer empfand. Ihn freute das. Eine andere Zeit, eine neue Zeit war angebrochen. Simon schloss die Augen und versuchte, Linus zu spüren. Aber da war nichts.
    Doch!
    Jemand stand schon eine Weile ein wenig versetzt hinter Simon und endlich drehte er sich um.
    „Du bist da“, sagte Edda ernst. Mehr nicht. Dann umarmte sie ihn. Sie waren sich ganz nah und für beide fühlte es sich richtig an. Und gut. So viel hatten sie hinter sich. Missverständnisse, Annäherungen und Auseinandersetzungen, Irrungen und Wirrungen – und jetzt schien plötzlich alles ganz einfach. Kein Zweifel mehr. Sie gehörten zusammen und es gab keine Notwendigkeit, sich zu erklären.
    „Er ist nicht hier“, sagte Edda nach einer Weile.
    „Nein“,

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