ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
Schifter sie hinein und nahm ihnen die Helme ab. Erschöpft saßen Simon und Gopal auf dem Rand des Bootes.
„Alles gut“, sagte Simon knapp.
Gopal nickte. „Alles glatt gegangen.“ Er wirkte nicht im Mindesten beunruhigt davon, dass er fast ums Leben gekommen wäre.
Simon spürte, dass er sich bewährt hatte. Vor den anderen – aber vor allem vor sich selbst. Ohne zu reden, fuhren sie in Richtung Plattform. Bald würde das Fest zum Fünfjährigen steigen. Jetzt hatten sie noch mehr zu feiern.
[3214]
Die Kälte der letzten Nacht hatte klares Wetter mitgebracht. Winterweiß strahlte die Sonne in Linus’ Zimmer, nachdem Olsen die seit Ewigkeiten geschlossenen Fensterläden geöffnet hatte. Linus’ Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Jetzt tränten sie durch die plötzliche Helligkeit, aber er sah die Sorge in Olsens Gesicht.
Ich heul nicht!, dachte Linus und schloss die Augen wieder. Scheiße! Er wollte nicht, dass Olsen von ihm dachte, er wäre ein Schwächling. Niemand sollte das glauben. Die letzten Stunden, die er wach gelegen hatte, war er durch sein Leben gewandert und hatte begriffen, dass es ihm stets darum gegangen war: Kein Schwächling sein. Deshalb hatte er die Verfolger am Teufelsberg auf seine Spur gelenkt. Deshalb der tödliche Kampf gegen Clint. Deshalb der Zungenkuss mit Judith, die bekannt dafür war, Regenwürmer zu essen. Deshalb auch das Verharren umgeben vom Feuer auf dem Hof der Großeltern in der Eifel. Er war noch so klein gewesen, aber er war nicht vor den Flammen weggelaufen wie die anderen. Er war in der Scheune geblieben und hatte sich nicht einmal wirklich gefürchtet. Neugierig hatte er wahrgenommen, was geschah. War das damals schon Neugier auf das Leben nach dem Tod? Waren die knochigen Finger, die in Köln in seinem Zimmer über die Wand huschten, die Finger des Todes gewesen, die schon damals nach ihm griffen? Jedenfalls war es kein Zufall, was ihm nun widerfuhr. Es musste so sein. Es passte. Es war sein Leben. Sein Sterben ... „Mein Wiederauferstehen“ kam ihm plötzlich in den Sinn, als hätte es ihm jemand eingeflüstert. Er horchte der Stimme nach. Aber sie meldete sich nicht mehr. Großartig, jetzt hatte er auch noch Halluzinationen. „Wiederauferstehung ...“, was für ein Schwachsinn, dachte Linus. Und dennoch dachte er unwillkürlich an die Jesus-Geschichte, von der Flanders in der Kirche gepredigt hatte. Die Einsamkeit vor dem Tod.
Die Einsamkeit.
Sie war zurück, auch in seinem Leben. Wie immer, wenn er geglaubt hatte, einen Zipfel vom Glück zu erwischen. Wenn er das Glück schon spürte, wenn er sich schon ausmalte, wie es sich anfühlen könnte. Aber dann konnte er es doch nicht empfinden. Warum nur alle so an ihrem Leben hingen?
Weil es so wunderbar ist, Idiot, sagte der fremde, unsichtbare Einflüsterer in seinem Kopf, der ihm schon seine Wiedergeburt hatte einreden wollen.
Ach ja? So wunderbar? Und so voller Überraschungen, oder?, antwortete Linus mit bitterer Ironie. Er wusste nicht, wie lange er hier schon in Bixbys Wohnung lag. Er hatte kein Gefühl für die Zeit mehr. Er wusste nur, dass Thorbens Mutter ihn jetzt versorgte. Was ein kleiner Fortschritt war, gemessen an der Drallen in der Klinik. Aber er war immer noch der hilflose Säugling; mehr tot als lebendig. Und so würde es immer bleiben. Anders hatte er das Gespräch zwischen Olsen und Thorbens Mutter nicht verstehen können. Sie dachten, er schläft, und sie flüsterten, doch Linus hatte alles mit anhören können. Thorbens Mutter hatte sich nach der besten Klinik für seinen Fall erkundigt. Linus nervte dieses „sein Fall“. Sie trauten sich nicht zu sagen, was Sache war. Weil sie selber die Hoffnung behalten wollten. Die Hoffnung, nicht betroffen sein zu müssen. „Sein Fall“ war etwas, das deprimieren konnte. Und sie wollten handeln, wollten irgendetwas tun. Zu groß war die Angst vor der eigenen Hilflosigkeit. Aber was war denn so schrecklich daran, aufzugeben? Linus dachte an den Moment in dem Tunnel am Teufelsberg. Als er plötzlich schwebte.
Leicht war.
Frei.
Er versuchte, dieses Gefühl noch einmal herzustellen. Dafür mussten alle Gedanken aus seinem Kopf verschwinden. Er musste Platz schaffen für dieses Erinnern. Aber je mehr er nach diesem Glücksgefühl strebte, desto mehr dunkle Gedanken bevölkerten sein Hirn. Vorwürfe tauchten auf. Warum er sich geopfert hatte. Dass niemand ihm das je danken würde. Dass er mit seinen Aktionen immer nur verzweifelt
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